Meine Liebe, Deine Liebe

Dokumentarfilm | Deutschland 1995 | 87 Minuten

Regie: Helke Misselwitz

Ein Gruppenporträt alter Bühnenkünstlerinnen und -künstler im Weimarer Marie-Seebach-Stift. Viele kleine, scheinbar private Episoden verdichten sich zu einem Bild unseres Jahrhunderts. Der Film beschreibt, daß in Weimar Kunst und Barbarei nebeneinander existierten, und wie die große Politik in die Schicksale einzelner Menschen eingriff. Er überzeugt durch seine sensible Sicht auf die Eigenheiten von Menschen und ist zugleich ein Film über das Leben als Spiel und die Schönheit des Alters. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Thomas Wilkening
Regie
Helke Misselwitz
Buch
Helke Misselwitz
Kamera
Thomas Plenert
Musik
Johann Strauß jr.
Schnitt
Gudrun Steinbrück · Inge Schneider
Länge
87 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Die Idee zu diesem Film hatte Helke Misselwitz schon in den 80er Jahren. Aber die DEFA wollte sich nicht darauf einlassen. Das Marie-Seebach-Stift, ein 1895 gegründetes Haus für greise Bühnenkünstler in Weimar, hob sich mit seinen lichten, individuell ausgestatteten Einzelzimmern, ja dem gepflegten Ambiente überhaupt, allzu sehr vom üblichen, eher bescheidenen Standard ostdeutscher Altersheime ab. Und sicher mochte auch die Historie des Stifts dazu beigetragen haben, daß die staatliche Filmproduktion der DDR lieber einen Bogen darum machte: Man wäre nicht umhin gekommen zu erwähnen, daß sich ausgerechnet Ex-Diva Emmy Göring, die Frau des preußisch-nationalsozialstischen Ministerpräsidenten, hier als Wohltäterin alter Kolleginnen und Kollegen engagiert hatte.

Einer Redakteurin des Mitteldeutschen Rundfunks war es nach dem Ende der DEFA zu verdanken, daß Helke Misselwitz doch noch die Gelegenheit erhielt, einen Film über das Marie-Seebach-Stift und seine Bewohner zu drehen. "Schönes Fräulein, darf ich's wagen", knapp 50 Minuten lang, wurde 1993 gesendet. Aber darüber hinaus lag eine Menge weiteres Material vor, das in einen abendfüllenden Kinofilm Eingang fand: "Meine Liebe, Deine Liebe". Helke Misselwitz verzichtete dabei auf manch überhöhende Elemente der Fernsehproduktion: die Auftritte der Schauspielerin Claudia Geisler, die in das 140 Jahre alte Gretchenkostüm der Marie Seebach schlüpfte und hin und wieder durchs Bild lief, sind nun vollständig eliminiert; und nur ein im Weimarer Park aufgenommenes Gruppenbild erinnert noch daran, daß auch Günter Lamprecht als Gast in der Fernsehfassung zu sehen war. Tatsächlich wirkten jene abgehobenen traumhaften Spielszenen schon damals wie Fremdkörper.

"Meine Liebe, Deine Liebe" weist, das liegt in der Natur der Sache, Parallelen zu "Der Kuß der Tosca" (fd 24 956) auf. Daniel Schmid hatte in einem von Giuseppe Verdi gestifteten Mailänder Künstler-Altenheim gefilmt; und hier wie da scheint es den Protagonisten durchaus bewußt, daß sie vor der Kamera vielleicht die letzte Rolle ihres Lebens spielen. Das tun sie mit eitlen Gesten und kleinem Augenzwinkern, mit Pathos, Understatement und geballter Selbstironie. Manchmal wühlen die Worte Gedanken frei, die Jahrzehnte unter einem Berg des Vergessens und Verdrängens geschlummert hatten. Und längst haben sich viele kleine wahre Begebenheiten zur großen Lebenslegende verknotet. Helke Misselwitz läßt die Damen und Herren, die das siebte Lebensjahrzehnt meist weit hinter sich gelassen haben, reden und sinnieren; ein paar behutsame Fragen der Regisseurin sind in den Film eingeflochten, aber einen Kommentar, der die Erzählungen mit dem Wissen einer Nachgeborenen ergänzt oder gar "politisch korrigiert", gibt es zum Glück nicht.

So stehen sie denn dicht nebeneinander, die durchaus widersprüchlichen Aussagen über die Zeit des Dritten Reiches. "Wir haben nichts gewußt", meint eine Schauspielerin, die damals tatsächlich noch sehr jung gewesen sein muß, und: "Ich habe immer geglaubt, dort oben (im KZ Buchenwald) säßen Kindermörder ..." Eine andere, ältere erinnert sich anders: "Das wußten wir alles. Keiner sprach darüber. War zu gefährlich." Manche der Heimbewohner spielten im Konzentrationslager, das die Nationalsozialisten unweit der Klassikerstadt errichtet hatten, für die Wachmannschaften und für ausgewählte Häftlinge Theater. In diese Reminiszenzen, aber auch an anderen Stellen des Films blendet Helke Misselwitz mehrfach ein Bild ein, das aus dem Fenster des Stifts aufgenommen wurde: den direkten Blick auf den Glockenturm von Buchenwald.

Zu den stärksten Szenen von "Mein Liebe Deine Liebe" gehören Erinnerungen an jüdische Freunde, die ins Ausland fliehen mußten oder umgekommen sind. Wenn eine 91jährige Dame an ihren Verlobten denkt, von dem sie sich damals trennte ("Ich hätte ihn ja doch nie heiraten können"), kommen ihr Tränen. Zwischen den Worten bleibt die Sehnsucht, manche früheren Entscheidungen noch einmal aufheben, die Biografie in andere Bahnen lenken zu können. Der Tod ist in solchen Momenten immer gegenwärtig: Das Ticken einer Uhr im Hintergrund symbolisiert den unaufhaltsamen Fortgang der Zeit; und wenn Helke Misselwitz nach dem Gespräch noch einmal den Lehnsessel der alten Frau zeigt, der nun leer ist, während andere Möbel in durchsichtige Plastikfolie verpackt sind, bedarf es keiner Worte, um das Gefühl von ewigem Abschied transparent werden zu lassen. (Ein Teil des Mobiliars war übrigens deswegen eingeschnürt, weil während der Drehs Bauarbeiten im Heim stattfanden - ein Zufall, der die Symbolkraft einiger Bilder unterstüzte.)

Alle Begegnungen sind von Menschlichem, Allzumenschlichem geprägt. Helke Misselwitz skizziert die Eigenheiten ihrer Helden liebevoll, ohne sie auch nur einem Hauch von Lächerlichkeit preiszugeben: Das greise Ehepaar, das fest aneinander gebunden ist, aber gern auch ein bißchen gegeneinander stichelt. Die Sängerin, die sich noch einmal an "Sag zum Abschied leise Servus" versucht und ihre momentane Verfassung mit den Worten kommentiert, sie habe die Stimme bei der letzten Wahl abgegeben. Die frühere Lehrerin, die ihre in Kästchen verwahrten DDR-Auszeichnungen hervorkramt und eine Medaille sarkastisch als "Aushalteorden" apostrophiert. Oder ein Musiker, der, im Bett liegend, die Qualität einer klingenden Geburtstagskarte einschätzt und dabei ein schmerzverzerrtes Gesicht aufsetzt: "Der Leitton ist zu tief." Immer noch und immer wieder wird das Leben als Spiel genommen.

Am Schluß führt einer der Heimbewohner einen Amateurfilm vor, von einem Sommerurlaub an der Ostsee, stumm, ganz in Slapstickmanier. Die Bilder sind 70 Jahre alt. Ob sie an Schärfe verlören, fragt der Mann und macht damit unbewußt auf ein Hauptthema von "Meine Liebe, Deine Liebe" aufmerksam: Von all den Dingen, die stets so wichtig schienen, daß man sich tagtäglich daran aufrieb, bleiben am Ende nur noch Konturen, Schatten der Erinnerung, vergilbende Fotos ... Inzwischen sind auch viele Protagonisten von "Meine Liebe, Deine Liebe" nur noch auf dem Filmmaterial lebendig. Helke Misselwitz ist es zu danken, daß sie die Schönheit und Weisheit, die Verschmitzheit und Traurigkeit ihrer alten Tage zum Leuchten gebracht hat. Ihre Arbeit ist eine Verbeugung aus Liebe und Ehrfurcht. Ein sensibler, facettenreicher und heiter gelöster Film.
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