- | Deutschland 1996 | 100 Minuten

Regie: Ivan Fíla

Der Leidensweg einer jungen Slowakin, die durch ein traumatisches Kindheitserlebnis die Sprache verweigert und die an einen bärbeißigen Deutschen "verkauft" wird. Eine bedrückende Studie der Sprachlosigkeit, die nur mit viel Zuneigung und Hinwendung überwunden werden kann. Trotz des düsteren Themas stellt der Film auf hoffnungsfrohe Weise das vertrauensvolle Miteinander als einzige Möglichkeit einer menschenwürdigen Existenz ins Zentrum. Voller subtiler Metaphern und Symbole, beeindruckend durch die zurückgenommene Kameraarbeit und die beiden großartigen Hauptdarsteller. (Kinotipp der katholischen Filmkritik; zum Teil O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Ivan Fila Filmprod./Avista-Film Herbert Rimbach/ZDF/ARTE
Regie
Ivan Fíla
Buch
Ivan Fíla
Kamera
Vladimír Smutný
Musik
Petr Hapka
Schnitt
Ivana Davidova
Darsteller
Lenka Vlasáková (Lea) · Christian Redl (Strehlow) · Hanna Schygulla (Wanda) · Miroslav Donutil (Gregor Palty) · Udo Kier (Heinrich Block)
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Ein schäbiger Ort in der Ostslowakei: Vom jenseitigen Ufer des Flusses beobachtet ein vierschrötiger Mann das Geschehen. Man schreibt das Jahr 1991, die Grenzen sind geöffnet, und der Deutsche Strehlow ist vor Ort, um die Besitzverhältnis zu klären und seine Ansprüche anzumelden. Eine Katastrophe für den Pachtbauern, doch Strehlow ist zu einem Handel bereit: er verzichtet auf den kargen Boden, wenn der Bauer auf seine 20jährige Pflegetochter Lea verzichtet. Strehlow legt sogar noch 50.000 DM drauf, und man wird sich gegen den Willen der jungen Frau, die als siebenjähriges Mädchen ansehen mußte, wie die Mutter vom jähzornigen Vater erschlagen wurde und seitdem die Sprache verweigert, handelseinig. Der wortkarge Strehlow, der seine wenigen Sätze wie Befehle bellt, und den ein düsteres Geheimnis zu umgeben scheint, und die verstummte Schönheit, die sich längst von der Welt zurückgezogen und sich eine eigene erschaffen hat: sie schreibt zärtliche Gedichte, malt, bastelt bunte Papierdrachen. Auf die neue Situation reagiert sie verschüchtert und verängstigt, Strehlow versucht überhaupt nicht, sich in sie einzufühlen, will ihren Willen brechen und behandelt sie als Magd und Sklavin. Mit einer derart willensstarken Frau hat er allerdings nicht gerechnet. Zwar befolgt Lea seine Anordnungen, doch ihr selbstbewußter Trotz und Widerstand führen den deutschen "Befehlshaber" ad absurdum. Seine ebenso plumpen wie besitzergreifenden Annäherungsversuche stoßen in die (emotionale) Leere. Daran ändert auch eine erzwungene Heirat in Dänemark nichts.

Nach wie vor büchst Lea bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus, sucht Zuflucht in einer verkommenen Kapelle, malt ihre bunten, fantasievollen Bilder, schreibt rätselhafte Briefe in die Slowakei, sitzt in Bäumen und dichtet ihrem traurigen Leben nach: "... warum lieben sie mich so sehr, mein Herr?" Ein Verhalten, das Strehlow, der langsam hinter ihre Schliche kommt, zur Weißglut treibt. Er zerreißt ihre Bilder, konfisziert die Briefmarken, kettet sie gar an und begreift noch immer nicht, daß er nicht nur seiner Frau eine unglaubliche Gewalt antut, sondern auch gegen sich selbst und seine Absichten arbeitet. Zwei Fremde helfen, den Konflikt zu lösen: der Antiquitätenhändler Block, der Lea bewundert, und bei dem Strehlow eine wertvolle Geige ersteht, als er Leas musikalisches Talent entdeckt, und die Übersetzerin Wanda, die im Auftrag des eifersüchtigen Ehemannes Leas Gedichte übersetzt. Sie gibt Strehlow die wertvollen Ratschläge, Leas Lieblingsblumen zu kaufen und sie zum Lachen zu bringen. Erst jetzt ändert Strehlow sein Verhalten, versucht zumindest, freundlich zu sein, kauft wilde Rosen und übt sprechen mit seiner Frau - ein Wort, eine Briefmarke. Aber erst als Lea sein Geheimnis entdeckt - Strehlows Frau kam während der Hochzeitsreise ums Leben, Strehlow nahm Zuflucht bei der Fremdenlegion - , nähern sie sich wirklich an. Lea faßt Zutrauen zu ihrem "grimmigen Bären", erzählt stockend von ihrer Kindheit, davon, daß der Vater die Mutter mit Handschellen erschlug, vergleichbar mit jenen, mit denen Strehlow seine Frau an sich binden will. An die Stelle von Besitzergreifung und Angst tritt Scheu voreinander, unsichere Formen von Zärtlichkeit. Im Winter unternimmt man eine Reise in Leas Heimatdorf, die Lea benutzt, um jene Höhle zu besuchen, in der sie ihrer Mutter einen Schrein errichtet hat. Hunderte von Kerzen erleuchten die Höhle, die Gedichte an die Mutter zieren den Altar. Strehlow entdeckt auch dieses Geheimnis und dadurch auch die große Liebesfähigkeit, die in ihr und ihm schlummern. Lea gibt sich ihm in aller Liebe hin, man unternimmt eine Reise ans Meer. Und dann zeichnet sich das Unglück ab: Kopfschmerzen, Tumorverdacht, plötzlicher Tod der spät geliebten Frau. Keine Beruhigungsmittel, sondern den Schmerz ausleben, die Asche verstreuen am Grab der Mutter.

Die Handlung von "Lea" mag sich nach jener Dutzendware von "Schicksalsfilmen" anhören, mit denen Fernsehanstalten ihr Angebot "aufbessern". Doch der erste lange Spielfilm des Dokumentaristen Ivan Fila hat ganz anderes zu bieten. Er entzieht sich dem Zeitgeist, setzt schroffe Gegenbilder, provoziert durch die vermeintliche Reproduktion von Klischees und durch den Versuch, endlich einmal wieder echte Gefühle ins Kino zu bringen. Gefühle, die sich allerdings über weite Strecken des Films in ihrer Negation ausdrücken; Kälte herrscht vor, Trauer und Angst. Wann immer Menschen zusammenkommen, knistert die Atmosphäre vor aggressiver Spannung, jeder belauert jeden, aus Angst vor Verletzungen traut sich niemand hinter seinem emotionalen Schutzwall hervor. Das gilt für die kleine Lea ebenso wie für die verscherbelte junge Frau, Strehlow hat sich eingeigelt, und Leas Pflegeeltern scheinen sich keine Gefühle leisten zu können. Es scheint, als wäre Geld der letzte Wert in einer tristen Welt. Alles ist käuflich, und vor dieser Metapher leuchtet noch einmal das Bild vom "häßlichen Deutschen" auf, der Anfang der 90er Jahre mit seiner Finanzkraft in die Staaten des ehemaligen Ostblocks "einmarschierte". Die Gefühlsarmut spiegelt sich auch in den Farben, schmutzige Brauntöne und kaltes Blau herrschen vor, korrespondieren mit der unwirtlichen Jahreszeit, in der sich das Drama abspielt. Die Landschaften, Höfe und Dörfer bieten keine Heimat, wirken wie hingespieen. Schutz bietet nur die Höhle unter dem freien Feld, sie strahlt Wärme und Geborgenheit aus und ist folgerichtig in warmes Kerzenlicht getaucht. Die Bilder des Kameramanns Vladimir Smutny ("Kolya") liefern oft nur Ausschnitte, bilden Kargheit ab, erinnern mit ihrem Mut zur Auslassung oft an japanische Tuschzeichnungen. Und an japanische Filme erinnert auch die Tongestaltung: Die spärliche Musik ist ein Hörnermotiv, das stets ein wenig variiert wird und in kakophonischen Klängen endet. Das Kratzen einer Glasscherbe auf altem Holz geht unter die Haut, unterstreicht die Worte, die lange Zeit nicht gesprochen werden.

Doch "Lea" zeigt auch, daß alle Verständigungsschwierigkeiten überwunden werden können. Ein schwieriger, langer, quälender Prozeß, der Hinwendung heißt, an dessen Ende der Mut steht, sich zu öffnen, und die Hoffnung auf ein menschliches Miteinander. In diesem Sinne ist "Lea" auch ein bitteres Märchen, dem es am Ende, trotz des traurigen Ausgangs, gottlob an Bitterkeit mangelt. Das Leben ist endlich angenommen worden, auch wenn an dessen Anfang ein Abschied steht. Dieser Funke Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben glimmt immer wieder einmal kurz auf. Dann sind die Menschen allein, nachdenklich, durch eine Fensterscheibe oder einen Spiegel von der Welt separiert, und man sieht ihnen an, wie sehr sie sich ins Leben hineinsehnen. "Lea" ist ein ernster, spröder, aber liebenswerter Film, getragen von zwei hervorragenden Darstellern, die ihrer Sprachlosigkeit durch kleine Gesten und flehende Blicke beredten Ausdruck verleihen, und die die Anspannung zwischen ihnen körperlich erfahrbar machen. Hinter all den Verkrustungen, unter denen die Protagonisten leiden, machen sie immer wieder auch die Zärtlichkeit spürbar, zu der sie trotz allem fähig sind, die sie ersehnen und auch erleben dürfen. Endlich kann auch der Zuschauer aufatmen, im Glück einhalten. Doch dann hastet das Leben weiter.
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