Die Party ist aus

Ein Essay über die Crux von Filmfestivals, das neue Bewusstsein für Klimaschutz mit dem Wunsch nach Aufwand unter einen Hut zu bringen

Veröffentlicht am
01. Oktober 2019
Diskussion

Für den 20. September 2019 hat die Bewegung „Fridays for Future“ zu einem internationalen Aktionstag für den Klimaschutz aufgerufen. In dem neuen Bewusstsein für die Umwelt und die Forderung, unnötige Klimabelastungen zu vermeiden, sieht Lars Henrik Gass auch die Filmfestivals in einem Dilemma stecken und vor großen Herausforderungen stehen: Einerseits wollen sie gern als ökologische Vorreiter hervortreten, andererseits könnten sie sich mit einer radikal gesäuberten Klimabilanz ins eigene Fleisch schneiden.


Just love everybody all around ya and clean up a little garbage on your way out and everything gonna be alright. (John Sebastian bei seinem Auftritt in Woodstock 1969 zugeschrieben)


Das Thema Klima ist auch bei den Filmfestivals eingetroffen. Daher will ich kurz vorwegschicken, dass es verabredet ist, als Festivalmacher hier an dieser Stelle nicht über andere Festivals zu schreiben, auch wenn es zum Beispiel über die Bezahlung von Mitarbeitern, den Umgang mit Sponsoren und Zuschussgebern oder die Bestellung von Festivalleitungen, also über den branchengängigen Umgang allerhand Unerfreuliches zu berichten gäbe. Wenn ich also hier über Filmfestivals schreibe, so aus gesellschaftspolitischer Sicht.

Seit rund 50 Jahren vermüllen und verpesten wir die Umwelt auf und mit Musikfestivals. Über 30 Kilometer lang soll 1969 zeitweise der Autocorso zum Festival in Woodstock gewesen sein. Der Umfang der Müllberge wurde nicht gemessen. Man war eher bemüht, ihn schnellstmöglich aus der Welt zu schaffen, dass er den Mythos nicht unter sich begrabe. Allein 600.000 Dollar fielen für Putz- und Aufräumarbeiten an. Der historische Schauplatz weckt heute archäologisches Interesse. Ungefähr 1400 Tonnen Müll wurden jedoch bei einer Wiederauflage in Woodstock im Jahr 1994 abtransportiert. Joni Mitchell sang über Woodstock: „I have come here to lose the smog.“ Dagegen fiel der CO2-Abdruck der meisten deutschen Filmfestivals 1969 noch klein aus. Es gab 1969 allerdings nicht einmal zehn Filmfestivals; heute sind es angeblich schon rund 400.

Filmfestivals im Dilemma

Vor gut fünf Jahren hat sich die „Berlinale“ ihre eigene Klimabilanz genauer angeschaut. Man muss der Maßnahme zugutehalten, dass die Datenlage schütter war und die Aussagekraft des Ergebnisses, etwa was den Besuch des Publikums anbelangt, bescheiden ausfiel. Die Pressemitteilung vom 28. Januar 2014 hält sich so bedeckt, wie man es eher bei einem börsennotierten Unternehmen vermuten würde: „Die Forest Carbon Group AG (FCG) unterstützt die Berlinale dabei, klimafreundlicher zu werden. Die FCG, ein Spezialist für nachhaltige und umweltfreundliche Unternehmens- und Produktstrategien, erstellt für die Internationalen Filmfestspiele Berlin den CO2-Fußabdruck und kompensiert die derzeit unvermeidbaren CO2-Emissionen durch ein Waldschutzprojekt. Eine Umweltanalyse wird überdies Empfehlungen aussprechen, wie und wo die Berlinale in Zukunft CO2-Emissionen reduzieren kann.“

      Die bisherigen Essays von Lars Henrik Gass auf www.filmdienst.de:

Untersucht wurden sowohl die interne Klimabilanz der „Berlinale“ (also etwa Strom, Wärme, Klimatisierung, Papierverbrauch, Dienstreisen, Logistik usw.) als auch die Veranstaltung selbst (dort überdies Hotelübernachtungen, Merchandising, Catering usw.). Ich darf aus diese Studie nicht zitieren und werde daher fairerweise auch keine Zahlen nennen, aber das keineswegs überraschende Ergebnis bekannt geben: Die meisten CO2-Emissionen im Erfassungszeitraum 2010 bis 2013 (neuere Zahlen liegen nicht vor) wurden intern wie extern durch Reisen, insbesondere Flugreisen verursacht, freilich mit steigender Tendenz, denn das Dilemma lautet nun einmal: Je mehr Akkreditierte und Gäste, desto mehr CO2-Emissionen. Diese können auch durch Kompensationen in anderen Bereichen nicht ausgeglichen werden. Die Klimabilanz der großen Filmfestivals ist zumindest wegen des Flugverkehrs, den sie provozieren, einigermaßen verheerend. Daran ändern dann auch die nachhaltig produzierte Tasche und ein bisschen Ökodesign wenig. Es darf überdies vermutet werden, dass die „Berlinale“ ihren Festivalkatalog keineswegs der Umwelt zuliebe abgeschafft hat, sondern weil zu viel Inhalt störte.

Flugscham und Kundenbindung

Das Wirtschaftsmagazin „brand eins“ schätzt, dass die Luftfahrt heute zwei bis drei Prozent der weltweiten CO2-Emissionen mit rund 4,3 Milliarden Flugpassagieren verursacht. Bis 2050 könnte der Anteil um das Drei- bis Siebenfache steigen. Schon im Jahr 2037 soll die Zahl der Flugpassagiere 8,2 Milliarden betragen. Kein Wunder also, dass angesichts des Klimanotstands, in dem wir uns jetzt schon befinden, Flugscham aufkommt. Eine Initiative aus Schweden möchte erreichen, dass immer mehr Menschen im Land auf Flüge komplett verzichten. Offenbar zeigt der Trend erste Effekte: Von Januar bis September 2018 verzeichneten die Fluggesellschaften drei Prozent weniger innerschwedische Flugreisen, berichtet das Portal „Klimareporter“. Für das Jahr 2020 wurde die Latte für das kleine Land nochmals höher gelegt: 100.000 Menschen sollen vom Fliegen abgehalten werden.

An den Hochschulen, also im akademischen Bereich, der besonders feinfühlig auf gesellschaftliche Konjunkturen reagiert, wurde das Thema längst als äußerst delikat erkannt, denn die Klimabilanz der Hochschule berührt ihr symbolisches Kapital: Ein achtloser Umgang mit der Umwelt kommt bei den Kunden nicht gut an. Manifeste und Erklärungen fordern, sowohl die Mobilität des akademischen Personals zu reduzieren (obwohl man dieses jahrzehntelang gerade dazu ermuntert hatte) als auch die Klimabilanz der Einrichtungen selbst zu verbessern. Das Goldsmiths in London etwa hat auf dem Campus gerade eine Extraabgabe für Plastikflaschen und -becher angeordnet (ohne diese freilich einfach zu verbieten) und Rindfleischprodukte aus dem Angebot verbannt, um bis 2025 Klimaneutralität zu erreichen. Damit schließt sich Goldsmiths dem internationalen Netzwerk von Hochschulen und Instituten an, die den Klimanotstand erklärt haben.

Klimabilanzen und Virtuelles Kino

Die neue Aufmerksamkeit für die Umwelt lenkt den Blick auch auf Bereiche von Festivals, die bislang kaum Beachtung fanden. So hat eine Wissenschaftlerin der University of Surrey besorgniserregende Mengen von Keimen an Festivalbändchen festgestellt, im Durchschnitt 20 Mal mehr als an normaler Kleidung. Erste Filmfestivals haben zu handeln begonnen. Sie schaffen Druckerzeugnisse ab oder veröffentlichen sogar eigene Klimabilanzen – bislang allerdings keines in Deutschland, soweit ich sehe.

Auch bei der Filmproduktion ist die Sache längst angekommen. „Green Events“ sind gerade „hottest shit“. Ausstellungen widmen sich dem „Ökokino“. Die Zahl von thematisch auf die Umwelt bezogenen Filmfestivals oder Filmfestivals mit Klimabilanzen nimmt massiv zu, bis hin zu Climate Change Film Festivals und Menschenrechtsfestivals, die sich, so hört man allenthalben, wachsender Beliebtheit erfreuen, gerade bei einem jüngeren Publikum. Da klaffen mitunter Anspruch und Wirklichkeit noch stark auseinander, insbesondere wenn die Cloud oder das Virtuelle Kino im Internet den Segen bringen sollen, denn der Stromverbrauch beim Streaming von Filmen ist alles andere als klimaneutral. Auch die Umstellung für Upload und Datenübertragung in Kommunikation und Filmhandling berücksichtigt nicht annähernd die CO2-Emissionen der Server, die für deren Umsetzung nötig sind.

Hanno Rauterberg hat jüngst in „Die Zeit“ den heuchlerischen Umgang mit dem Klimanotstand in der Kunstwelt als „Greenwashing“ angeprangert: „Es gilt als Selbstverständlichkeit, dass Kuratoren für einen kleinen Atelierbesuch um die halbe Welt jetten, dass immerzu Kunstwerke per Flugexpress versandt werden und bei den Messen in Miami oder Basel die Flughäfen nachgerade verstopft sind, weil so viele Sammler mit einem Learjet anreisen. Ein Künstler wie Ólafur Elíasson erzählte schon vor Jahren, dass er fast ununterbrochen mit dem Flugzeug unterwegs sei, um alle Ausstellungen betreuen, alle Auftraggeber sprechen zu können oder auch mal 122 Tonnen Grönlandeis nach London verschiffen zu lassen, wo sie als Kunstaktion pittoresk vor sich hin tauten... Wie wirkungslos eine sozial und politisch gepolte Kunst in der Regel ist, zeigt sich bereits daran, dass Künstler-Appelle grundsätzlich nur die anderen meinen. Diese anderen sind es, nicht die Künstler selbst, auch nicht die Museen, Theater oder Filmstudios, die sich ganz dringend ändern sollen. Es gilt die alte Regel: Je moralisierender das Pathos der Kunst, desto schwächer die Bereitschaft zur Selbstkritik.“

The kids are all right so far

Aber klar ist jetzt schon: Plastikbehältnisse, laminierte Ausweise, Kunststoff-Lanyards, gebrandete Kugelschreiber, Catering aus Massentierhaltung, extensiver Gäste-Shuttle usw. auf Filmfestivals, insbesondere aber die Vielfliegerei sind immer schwerer vermittelbar, und das aus gutem Grund. Schaut man aber in die Bewilligungsbescheide und Vorgaben der Fördergeber, sollte man denken, es gehe unbeeindruckt weiter um größer und schneller (das Qualitätsbewusstsein in den Ministerialbürokratien hat mit der gesellschaftlichen Entwicklung nicht mitgehalten und ist zum Teil auf ein trostloses Niveau quantitativer Maßstäbe gesunken).

Abgesehen aber von Selbstverpflichtungen dürfte die große Party auf kurz oder lang sowieso vorbei sein. Sei es, dass die Besteuerung von Flügen so hoch ausfallen wird, dass die Besuchszahlen auf diesem Wege abnehmen, sei es, dass immer weniger, vor allem junge Menschen auf Flüge und damit auf den Besuch von Filmfestivals im Ausland verzichten werden. Dies bedroht freilich die mittelgroßen bis großen internationalen Filmfestivals mehr als die kleinen, regionalen Veranstaltungen. Je größer die Filmfestivals, desto größer ist die Abhängigkeit von internationalen Akkreditierten und Gästen.

Meinungsbildend wächst gerade eine Generation heran, deren sichtbarster Ausdruck „Fridays for Future“ ist. Sie finden es nicht mehr cool, den Coffee-to-go aus Plastikbechern zu trinken, zu fliegen oder Fleisch zu essen; ihr Aktionsradius ist radikal regional, ihr Bewusstsein universell. Dies ist, so darf man hoffen, nicht nur eine konjunkturelle Überreaktion, sondern eine ernsthafte Wende im Klimabewusstsein junger Menschen, die sich ihren Planeten von unserer Spaßgesellschaft nicht ruinieren lassen möchten.

Klimabilanz wird auf jeden Fall ein Distinktionsmerkmal für Marken, ob für große Unternehmen, Hochschulen oder Filmfestivals. Einstweilen wird die Bewegung noch als Ausdruck einer bürgerlichen Schicht abgetan (obschon wir ohne die Bürger Marx und Engels die Idee des Kommunismus vielleicht niemals entdeckt hätten), aber sie wird größer und geht nicht mehr jedem faulen Marketingtrick und billigem Ablasshandel auf den Leim. Wir können uns jetzt entscheiden, ob wir sie als Publikum noch für Film und Festivals begeistern möchten.

Das Angstszenario internationaler Filmfestivals, die von der gesellschaftlichen Entwicklung überrollt zu werden drohen, könnte der Anlass sein, sich wieder auf das zu konzentrieren, worum es gehen sollte: Filme zu sehen und über sie sprechen.


Der Autor Lars Hendrik Gass ist seit 1997 Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Er veröffentlicht regelmäßig Essays, Kritiken und Vorträge zu Film, Photographie sowie kultur- und filmpolitischen Themen und lehrt zu Film und Kulturmanagement. Er ist Mitherausgeber der Bände "Provokation der Wirklichkeit. Das Oberhausener Manifest und die Folgen" (2012) und "after youtube. Gespräche, Portraits, Texte zum Musikvideo nach dem Internet" (2018) sowie Autor der Bücher "Das ortlose Kino. Über Marguerite Duras" (2001), "Film und Kunst nach dem Kino" (2012) und "Filmgeschichte als Kinogeschichte. Eine kleine Theorie des Kinos" (2019).


Foto: Warner

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