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Berlinale 2020: Kampf ums Überleben - King Vidor

Die Retrospektive der 70. „Berlinale“ (20.2.-1.3.2020) gilt dem US-amerikanischen Regisseur King Vidor (1894-1982)

Veröffentlicht am
16. August 2020
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Die Retrospektive der 70. „Berlinale“ (20.2.-1.3.2020) gilt dem US-amerikanischen Regisseur King Vidor (1894-1982). In seinen mehr als 50 Filmen, von denen in Berlin 35 gezeigt werden, nutzte der vielseitige Filmemacher virtuos die Mittel des Studiosystems, ohne sich künstlerisch vereinnahmen zu lassen. Seine Werke verbinden Unterhaltsamkeit mit Realismus, humanistisch und religiös gefärbte Sozialkritik mit einer oft optimistischen Haltung.


King Vidor war – diese Meinung vertritt der US-amerikanische Filmhistoriker Tag Gallagher – so etwas wie der Steven Spielberg der Stummfilm-Ära. Ein Regisseur, dessen Filme in den 1920er-Jahren kommerziell erfolgreich und gleichzeitig anspruchsvoll waren, angenehme Unterhaltung boten und doch auch Sozialkritik übten. Die große Parade (1925) war einer der erfolgreichsten Stummfilme überhaupt und machte MGM zu einer starken „Marke“: Bei Produktionskosten von 382.000 Dollar spielte der Film fast das Neunfache, nämlich 3.485.000 Dollar, ein.

Vidor war nicht nur beliebt – er gehörte auch damals schon zur Avantgarde. Sein Film Ein Mensch der Masse („The Crowd“, 1928) ist ein ebenso unbarmherziges wie raues Melodram über die Verzweiflung der unteren Mittelschicht, gefilmt mit versteckten Kameras in den Straßen von New York. „The Crowd“ ist ein schönes Beispiel für die Poesie der Stummfilm-Ära, durchaus vergleichbar mit Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin oder Murnaus Sunrise. Mehr noch: „The Crowd“ stieß 16 Jahre später den Neorealismus in Italien an; die Lebensrealität der Zuschauer wurde urplötzlich auf der Kino-Leinwand abgebildet. Unser tägliches Brot ("Our Daily Bread") setzte 1934 die sozialkritische Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Arbeitswelt fort. Zuvor kam aber 1929 Hallelujah, Vidors erster Tonfilm und der erste Film überhaupt, der afroamerikanische Lebenswelt ernstnahm. Schwarze Realität gehört zur US-Kultur dazu – warum sie also nicht auch zeigen?

"Ein Mensch der Masse" © Österr. Filmmuseum/1928 Turner Entertainment Co.
"Ein Mensch der Masse" © Österr. Filmmuseum/1928 Turner Entertainment Co.

US-Mythen, präsentiert mit Humanismus und Religiosität

Diese Bandbreite macht Vidor zu einem spezifisch „US-amerikanischen“ Regisseur, dessen Filme die Mythen Amerikas, das, was man Americana nennt, abbilden und hinterfragen. Sicherlich haben auch andere Regisseure Amerika definiert, Howard Hawks mit seinen tatkräftigen Professionals, John Ford mit seinem Sinn für Gemeinschaft und Raoul Walsh mit seinen unerschrockenen Abenteurern. Doch bei King Vidor kommt noch etwas anderes hinzu: Sein zutiefst empfundener Humanismus und seine starke Religiosität. „The earth, the heaven, and everything we see belongs to God“, heißt es einmal in „Hallelujah“. Und in „American Romance“ (1944) sagt eine Mutter zu ihrem Kind, während sie beobachten, wie ein Schmetterling aus einer Larve schlüpft: „God is being born, and living, and kindness, and being happy, and helping others.“ Nicht zu vergessen die letzten Worte in Krieg und Frieden (1956), zitiert nach Leo Tolstoi: „The most difficult thing – but an essential one – is to love Life, to love it even while one suffers, because Life is all. Life is God, and to love Life means to love God.“

Von Beginn an widmet sich Vidor glaubwürdigen und identifikationsfähigen Figuren und setzt sie extremen Situationen aus. Sie müssen kämpfen, oftmals ums Überleben. Sein Held ist der Jedermann: der einfache Landser aus „Die große Parade“, der Großstädter aus „Ein Mensch der Masse“, die Farmer in „Unser tägliches Brot“ oder der Immigrant aus „An American Romance“. Der Kampf, den Vidor beschreibt, bezieht sich aber nicht nur auf den einzelnen Menschen, sondern auch auf den Kampf zwischen dem Menschen und der Landschaft, der Stadt, den Elementen.

Man achte nur einmal darauf, wie sehr Kirk Douglas in Mit stahlharter Faust („Man without a Star“, 1955) mit dem Stacheldraht, der die Natur zerschneidet, hadert, wie sehr Bette Davis in Der Stachel des Bösen („Beyond the Forest“, 1949) von der Enge der Kleinstadt beeinflusst ist, wie sehr die Figuren in Duell in der Sonne (1945) in der vom roten Sonnenuntergang getränkten Landschaft verloren gehen, wie sehr der Beton der Großstadt die Menschen in „The Crowd“ voneinander entfremdet, wie sehr die Sümpfe Jennifer Jones in Wildes Blut (1952) zusetzen. Vidor setzt seine Figuren stets in Beziehung zu ihrer Umwelt. Ohne sie sind seine Filme nicht denkbar.

"Unser tägliches Brot" © Deutsche Kinemathek/Lobster Films
"Unser tägliches Brot" © Deutsche Kinemathek/Lobster Films

Eine Kindheit im Nickelodeon

King Vidor wurde am 8. Februar 1894 in Galveston, Texas, geboren, also ein Jahr vor der Erfindung des Kinos. Schon als Kind kam er mit Filmen in Berührung. Als Schulbub riss er bei einem örtlichen Nickelodeon die Karten ab oder vertrat gelegentlich den Filmvorführer während dessen Mittagspause. So hat er einige Filme unzählige Male gesehen und ihre Machart studieren können. Im Gespräch mit dem Filmhistoriker Richard Schickel berichtete Vidor davon, wie gefährlich das gewesen sei, weil das Zelluloid so explosiv war und der Film nach dem Durchlaufen nicht etwa aufgerollt wurde, sondern ungeordnet in einen Korb plumpste. Ein Funke, und schon wäre alles in Flammen aufgegangen. Schön ist auch die Geschichte eines Freundes, der eine Zigarrenkiste zu einer Kamera umfunktionierte. „Als ein Sturm aufkam, so ein Golfküsten-Hurrikan, sind wir einfach nach draußen und haben ihn fotografiert. Dann haben wir den Film in zwei oder drei texanischen Städten verkauft. Von da an war ich ein Nachrichten-Kameramann.“

1915 heiratete Vidor eine schöne junge Frau aus Houston, Florence Arto, und fuhr mit ihr nach Hollywood. Während Florence Vidor zunächst als Schauspielerin kleine Rollen in Vitagraph-Filmen spielte, bevor sie bei Famous Players Lasky zum Star aufstieg, ging Vidor in den ersten Jahren von Studio zu Studio, von Abteilung zu Abteilung, und nahm jeden Job an, vom Kleindarsteller bis zum Script-Jungen – für 12 Dollar in der Woche. Die Vidors wohnten in der Nähe des Studios von David Wark Griffith, der gerade am Sunset Boulevard die riesigen Bauten für die Babylon-Episode von Intolerance aufgebaut hatte. Vidor schlich sich auf das Set und schaute einfach zu. Griffith war sein großes Vorbild. Von ihm konnte er alles lernen, über Kameraführung, Spannungssteigerung, Action-Höhepunkte bis zum Einsatz der Musik.

Dann endlich erhielt er die Chance, selbst Regie zu führen, Zweiakter zunächst, zumeist für Universal. Der älteste Film, der bei der Retrospektive in Berlin 2020 läuft, ist „Bud’s Recruit“ von 1918. Ein Mann hält darin nichts vom Kriegsdienst, ändert seine Meinung aber unter dem Druck seiner Verlobten und durch die Herausforderung seines minderjährigen Bruders, der sich verkleidet bei der Army anwerben lässt.

King Vidor bei MGM

Vidor mietete in Hollywood einen kleinen Bungalow für 50 Dollar im Monat und baute im Hinterhof eine Bühne auf – sein eigenes kleines Filmstudio mit dem hübschen Namen Vidor Village. Hier entstanden kleine Filme, etwa der bezaubernde „Conquering the Woman“ (1922), der in Berlin nicht zu sehen ist, obwohl sein Titel handlungsstiftend gleich für mehrere Stummfilme von Vidor ist. Später ging Vidor zu Metro, aus der kurz darauf, 1924, Metro-Goldwyn-Mayer wurde. Über 20 Jahre blieb Vidor bei MGM. Er genoß, ähnlich wie später Vincente Minnelli, die Größe des Studios, seine unerschöpflichen Möglichkeiten und Ressourcen, seine hochspezialisierten Fachkräfte. „You know – we can afford an experimental film“, hatte Irving Thalberg zu Vidor gesagt, als er The Crowd drehte. Hier, bei MGM, hatte Vidor alles, was er für seine Arbeit brauchte.

"Die große Parade" © Sammlung Cinémathèque suisse/1925 Turner Entertainment
"Die große Parade" © Sammlung Cinémathèque suisse/1925 Turner Entertainment

1925 erlebte er den Durchbruch mit Die große Parade. Mit dem Erfolg an der Kinokasse dürfte selbst der Produzent Irving Thalberg nicht gerechnet haben, der einfach nur den Anteil der USA am Ersten Weltkrieg herausstellen wollte. Vidor machte aus dieser Vorgabe eine realistische Anklage gegen den Krieg. Nicht die Deutschen sind der eigentliche Feind, sondern das sinnlose Töten. Der Film erzählt die Geschichte des reichen Müßiggängers James Apperson, der sich 1917 freiwillig meldet und in Frankreich das Bauernmädel Mélisande kennenlernt, bevor er an die Front muss. Als Invalide kehrt er in die Heimat zurück – um feststellen, dass sich seine Freundin mit seinem Bruder getröstet hat. James reist noch einmal nach Frankreich, auf der Suche nach Mélisande.

Wie so oft bei Vidor muss der Held erst eine „Erziehung des Herzens“ durchmachen, um zu erkennen, wen oder was er eigentlich will. Erst Mélisande, die als Frau, Europäerin und Bäuerin das soziale Gegenstück zu ihm bildet, zeigt ihm mit ihrer Natürlichkeit und Unbekümmertheit wahre und ehrliche Gefühle.

„Die große Parade“ ist zwar ein großer Anti-Kriegsfilm, der seine glaubwürdige Haltung an einem gewöhnlichen Mann entfaltet, nicht an einem General oder einem Helden. Trotzdem ist er auch ein großer Liebesfilm. Zu den schönsten Szenen gehört der Abschied der Soldaten. Mélisande sucht verzweifelt in den zahllosen Lastwagen nach ihrem Geliebten. Als sie ihn endlich findet, kann sie nur einen seiner Stiefel, quasi als Liebespfand, erhaschen. Für James ein Opfer, dem später ein noch größeres folgen soll.

"Show People" © Deutsche Kinemathek/1928 Turner Entertainment Co.
"Show People" © Deutsche Kinemathek/1928 Turner Entertainment Co.

Opernmelodramen und Komödien

Im Jahr darauf entstand „La Bohème“ (1926), ein selten gezeigter Stummfilm und vielleicht Vidors schönster. Nach dem Roman von Henri Murger und der Oper von Puccini erzählt der Film die Geschichte der armen Schneiderin Mimi, die sich für ihren Geliebten, den mittellosen Bühnenautor Rodolphe, aufopfert. Damit Rodolphe ungehindert seiner Kunst leben kann, verlässt sie ihn ohne eine Nachricht. Aus dieser Enttäuschung erwächst ein „großes Stück“. Am Premierenabend schleppt sich die schwerkranke Mimi durch die ganze Stadt, um in den Armen Rodolphes zu sterben. Es ist diese Rückkehr, die das Werk zu einer der ganz großen Tragödien der Filmgeschichte macht. Wie sich Lillian Gish an einen Pferdewagen hängt, weil sie vor Erschöpfung nicht mehr laufen kann, und sich durch die schmutzigen Straßen ziehen lässt – das ist von großer emotionaler Kraft.

Überhaupt die Gish: schön, zerbrechlich, zart, gleichzeitig kräftig und willensstark. Als sie einmal zum Pfandleiher geht, um Geld für die Miete zu beschaffen, scheint sie jedes Kleidungsstück, dass sie veräußern will, mit den Augen zu streicheln. Erst hoffnungsvoll lächelnd, weil sie allein um seinen Wert weiß. Dann die Enttäuschung, als es nur ein paar Münzen gibt, erneute Entschlossenheit und das Ganze noch einmal von vorn beim nächsten Kleidungsstück. All das ist in ihrem Gesicht enthalten.

"Hallelujah" © 1929 Turner Entertainment Co.
"Hallelujah" © 1929 Turner Entertainment Co.

Vidor hat auch Komödien gedreht, drei immerhin: „The Patsy“, Show People (beide 1928) und „Not so Dumb“ (1930). In allen drei spielt Marion Davies die Hauptrolle. Sie war damals einer der berühmtesten Hollywood-Stars, nicht zuletzt durch ihre Liaison mit dem Medientycoon William Randolph Hearst, der seine Presseerzeugnisse auf den Lobgesang seines Schützlings einschwor. Dass Vidor anschließend keine Komödien mehr inszenierte, darf man durchaus bedauern. Er beherrschte viele Genres, vom Western bis zum Kriegsfilm, vom Drama bis zur Literaturverfilmung. 54 Filme hat er zwischen 1918 und 1959, also in einem Zeitraum von über 40 Jahren, gedreht. 54 Filme, die nicht immer auf einen Nenner zu bringen sind, thematisch und stilistisch. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum Vidor unter Cinephilen nicht den gleichen Kultstatus wie John Ford, Howard Hawks oder Alfred Hitchcock genießt. Vidor ist nicht so einfach zu greifen, seine Themen sind zu divers, seine Formen zu vielfältig. Er konnte radikal sein und konservativ. Er konnte romantisch sein und schockierend. Er passte in keine Schublade.

Ein Film ohne Maß: „Duell in der Sonne“

Und dann gibt es einen Film, bei dem er, angetrieben vom Produzenten David O. Selznick, deutlich das Maß verloren hat: „Duell in der Sonne“. Die Getriebenheit der beiden Hauptfiguren, ihre Sexbesessenheit, die Wildheit von Jennifer Jones, die balladeske Handlung, die flammenden Farben, die Ausgesuchtheit der Einstellungen, das bizarre Finale – alles ist hier einen Tick zu viel. Wenn Gregory Peck und Jennifer Jones in der Wüste orgiastisch aufeinander schießen und schwer verletzt aufeinander zukriechen, ist die Grenze zum Camp überschritten. Und doch ist dies, darauf hat David Thomson verwiesen, „der größte primitive Film im amerikanischen Kino“.

"Ein Mann wie Sprengstoff" © Österr. Filmmuseum/Park Circus/Warner Bros.
"Ein Mann wie Sprengstoff" © Österr. Filmmuseum/Park Circus/Warner Bros.

Auch in den folgenden drei Filmen – Ein Mann wie Sprengstoff („The Fountainhead“, 1948) , Der Stachel des Bösen und Wildes Blut – wird Vidor seine Charaktere in Zustände der Leidenschaft, der Angst oder des konfliktreichen Widerspruchs versetzen. In „Ein Mann wie Sprengstoff“ lässt ein ehrgeiziger Architekt ein teures Gebäude einfach sprengen, weil es nicht seinen ursprünglichen Plänen entspricht. In „Der Stachel des Bösen“ ist Bette Davis die unzufriedene Ehefrau eines Provinzarztes, die einen Freund ihres Mannes erschießt, damit der nicht verraten kann, dass sie von ihrem Liebhaber schwanger ist. Davis ist hier eine dunkle Kraft, unsympathisch und gefährlich. „Wildes Blut“ präsentiert noch einmal Jennifer Jones „bigger than life“: Sie heiratet einen Millionär, obwohl sie jemanden anderen liebt. Es sind extreme, gewalttätige Charaktere, die so gar nicht zu Vidor passen wollen. Der Optimismus seiner Anfänge scheint hier in Pessimismus umzuschlagen.

Ein Optimist

Doch die wundervolle Audrey Hepburn wiederlegte diese These in Krieg und Frieden (1956), einem von Vidors unterschätzten Filmen. Die Hepburn hat als Natascha auf ihre Umgebung eine geradezu tröstende, heilende Wirkung. Sie ist Engel, junge Mutter und Krankenschwester zugleich. Und als die Familie am Ende des Films endlich in ihr zerstörtes Heim zurückkehren kann, reißt sie alle mit ihrer positiven Energie mit. Und dann ist da noch Judy Garland, die „Somewhere over the Rainbow“ singt, magisch und wunderschön, in Szene gesetzt von King Vidor während der zwei, drei Wochen, die er an The Wizard of Oz arbeitete.

„Ich glaube nicht an eine schlechte Welt.“ Das sind Vidors letzte Worte im Gespräch mit Richard Schickel. Also doch ein Optimist.


Hier geht es zur Übersicht der in Berlin gezeigten Filme von King Vidor.


Literatur:

Zur Retrospektive erscheint ein reich bebildertes Buch im Verlag Bertz und Fischer. "King Vidor". Hg. von Karin Herbst-Meßlinger und Rainer Rother. Zweisprachig Deutsch/Englisch. 252 Seiten, zahlreiche Fotos. 25 EUR.


Weitere Bücher und Artikel:

Raymond Durgnat/Scott Simmon: King Vidor, American. Berkeley/Los Angeles 1988.

Tag Gallagher: King Vidor. Frankfurt 2000 (auf Englisch)

Clive Denton: King Vidor. In: The Hollywood Professionals, Vol. 5, London/New York 1976.

Sergio Toffetti, Andrea Morini: La Grande Parata. Il cinema di King Vidor. Turin 1994 (erschienen anlässlich der Vidor-Stummfilm-Retrospektive 1994 in Venedig).

Hans Helmut Prinzler: Directed by King Vidor, Materialien zum Handwerk seiner Filmarbeit. In: Filme Nr. 10, Juli/August 1981, Berlin.

Richard Schickel: King Vidor. In: Richard Schickel: The Men who made the movies. New York 1975.

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