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Hollywoods Holocaust-Gericht - "None Shall Escape" von André de Toth

Ein Nazi-Kriegsverbrecher vor dem „World Tribunal“: Wie der Anti-Nazi-Film „None Shall Escape“ (1943) mit dem Tabu der Holocaust-Darstellung im Kino brach und die Nürnberger Prozesse vorwegnahm

Veröffentlicht am
16. August 2020
Diskussion

Vor 75 Jahren unterzeichneten die Aliierten im August 1945 das sogenannte Potsdamer Abkommen. Es regelte, dass NS-Kriegsverbrechern vor Gerichten den jeweiligen Besatzungszonen der Prozess gemacht werden sollte. Ein Hollywood-Film hatte die Kriegsverbrecher-Prozesse bereits 1943 vorweggenommen: „None Shall Escape“ von André de Toth war ein frühes Plädoyer für die juristische Aufarbeitung der Gräueltaten der Nazis. Über die Entstehung und Aufnahme eines bemerkenswerten Werkes (das via Youtube frei zugänglich ist).


Vor 75 Jahren, am 8. August 1945, vereinbarten die alliierten Siegermächte, die Hauptkriegsverbrecher anzuklagen wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Klage, der zahlreiche Staaten der im Juni 1945 gegründeten Vereinten Nationen beitraten, war die Grundlage des Nürnberger Prozesses, der am 20. November 1945 begann.

Bereits knapp zwei Jahre vorher schilderte jedoch der vor den Nazis aus Europa geflohene ungarische Regisseur André De Toth in Hollywood in seinem Film None Shall Escape(zum Film auf Youtube) den Prozess gegen den (fiktiven) „Reichs Commissioner of the western region of Poland“ Wilhelm Grimm vor dem „International Tribunal of War Crimes District of Warsaw“, in dem Grimm wegen seiner Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wird. Die Originalstory, die 1945 für den „Oscar“ nominiert wurde, hatten zwei vor den Nazis geflüchtete Exilanten geschrieben, der deutsche Schriftsteller Alfred Neumann und der österreichische Produzent und Drehbuchautor Joseph Than.

„Die Verschwörung des Schweigens“

Mit ihrer Story brachen Neumann und Than ein Tabu: „None Shall Escape“ ist der einzige während des 2. Weltkriegs in Hollywood gedrehte Anti-Nazi-Film, in dem der Holocaust thematisiert wird, wie der emigrierte Chefredakteur der deutsch-jüdischen Wochenzeitung „Aufbau“, Manfred George, schon damals in seiner Kritik betonte: „Zum ersten Mal in diesem Film räumt Hollywood auch dem jüdischen Schmerz ausserhalb sentimentaler Phrasen Leid und Größe ein. Das Massaker der Deportierten und die heroische Gestalt des Rabbi sind ein wenn auch noch schüchterner Versuch, die Verschwörung des Schweigens, das Hollywood dem jüdischen Schicksal gegenüber bisher gezeigt hat, zu brechen.“ („Aufbau“ v. 14. April 1944, S.10)

Für diese „Verschwörung des Schweigens“, die im „Aufbau“ schon länger angeprangert worden war, gab es mehrere Gründe. Die mehrheitlich von eingewanderten Juden der ersten und zweiten Generation gegründeten Filmstudios wurden schon seit den 1920er-Jahren ständig massiv von antisemitischen und pro-nazistischen Organisationen in den USA angegriffen. Diese bezichtigten die Filmindustrie einer jüdisch-kommunistischen Verschwörung und behaupteten, die sexuell verdorbenen und geldgierigen Film-Moguls vergifteten Geist und Moral von Millionen Amerikanern: „Hollywood is the Sodom and Gomorrha“ brachte ein Mitte 1930 weit verbreitetes antisemitisches Flugblatt die Verleumdungen auf den Punkt. Die Lügenpropaganda war erfolgreich, 1940 waren 60 Prozent der Amerikaner der Ansicht, dass Juden unangenehme Eigenschaften besäßen und mehr als 30 Prozent meinten, dass Juden zu viel Macht in Wirtschaft und Politik hätten. Die Studiochefs hatten Angst, mit jüdischen Themen den weitverbreiteten Antisemitismus noch weiter anzuheizen.

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Bei antifaschistischen Filmproduktionen in den 1930er-Jahren wurde von verschiedenen Seiten Druck auf die Studios ausgeübt, die NS-Judenverfolgung nicht zu erwähnen, „von dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland, von Benito Mussolini und den italienischen Faschisten, von amerikanischen und ausländischen Filmkritikern, von der Production Code Administration (PCA), vom German-American Bund, von Antisemiten, Isolationisten, amerikanischen Politikern“, schrieb der amerikanische Filmhistoriker Michael E. Birdwell in seinem Buch „Das andere Hollywood der dreißiger Jahre. Die Kampagne der Warner Bros. gegen die Nazis“.

Das Kriegsverbrecher-Tribunal in „None Shall Escape“
Das Kriegsverbrecher-Tribunal in „None Shall Escape“

Der Direktor von Hollywoods Selbstzensurbehörde PCA, Joseph Breen, ein pathologischer Antisemit, schüchterte die Produzenten ein mit Hinweisen auf den Antisemitismus des amerikanischen Publikums, und auch die amerikanische Regierung bedrängte die Studios. Im Untersuchungsausschuss des Senats für Propaganda in Spielfilmen behaupteten die Senatoren Gerald P. Nye und Bennett C. Clark noch 1941, „die Filmbranche hetze zum Krieg auf, bilde ein von Juden kontrolliertes Monopol und sei in verdeckte Geschäfte mit der Roosevelt-Regierung verwickelt. Nach der isolationistischen – man könnte auch sagen antisemitischen – Ansicht der Ausschussmitglieder hatte Hollywood die offizielle Neutralität der Vereinigten Staaten bewusst verletzt und ein leichtgläubiges Publikum mit dem Kriegsfieber infiziert.“ (Birdwell).

Weil die antisemitische Stimmung in den USA während des Kriegs noch zunahm, war auch die US-Regierung strikt dagegen, die rassistische Judenverfolgung in den Anti-Nazi-Filmen zu thematisieren. Denn die Befreiung der europäischen Juden war kein Kriegsziel der Alliierten und die Roosevelt-Regierung wollte den Eindruck vermeiden, dass die amerikanischen Soldaten in Europa für die Befreiung der Juden kämpften. Vielmehr sollte im Film der Krieg als Volkskrieg, als „people’s war“, dargestellt werden, wie das 1942 gegründete Motion Picture Bureau (MPB) des Office of War Information (OWI) den Filmstudios unmissverständlich erklärte. Als 1943 der „American Jewish Congress“ an die Filmstudios appellierte, einen Film über die Judenverfolgung und -vernichtung zu produzieren, lehnte der Direktor des MPB, Lowell Mellett, diese Forderung ab mit der Begründung, es sei „unklug vom Standpunkt der Juden selbst“ einen Film nur über die Judenverfolgung zu drehen, aber Filme über „unterschiedliche Gruppen, die vom Handeln der Nazis betroffen worden sind“ könnten durchaus die Judenverfolgung mit einschließen – und genau an diese Devise hielten sich Neumann und Than mit ihrer Story „Lebensraum“, wie der Film ursprünglich heißen sollte.

A post-war picture“: Von der Idee zum Drehbuch

Beide Autoren waren Spätankömmlinge in Hollywood. Alfred Neumann war 1933 erst nach Italien emigriert und 1938 weiter nach Frankreich. Er gehörte zu der kleinen Gruppe von Schriftstellern, die 1940 von den Hollywood-Studios einen Jahresvertrag mit 100 Dollar monatlich erhielten, auf Grund dessen sie die nötigen Affidavits und Einreisevisa für die USA bekamen. Neumann kam im Februar 1941 nach Hollywood und arbeitete bis März 1942 im Warner Bros. Studio, danach engagierte ihn im Juli 1942 das Columbia Studio, wo er gemeinsam mit dem Drehbuchautor Joseph Than im Team des Produzenten Samuel Bischoff arbeitete. Than war bei Beginn der Nazi-Diktatur 1933 aus Berlin nach Wien zurückgekehrt und 1938 nach Frankreich geflohen, wo er während des Krieges in der französischen Armee als „prestataire“ (Dienstleister) diente. Nach vielen Schwierigkeiten gelang ihm 1941 über Spanien die Flucht in die USA. Durch Vermittlung der Paul Kohner Agentur erhielt auch er im Juli 1942 einen sechsmonatigen Vertrag beim Columbia Studio für 100 Dollar, der Anfang 1943 auf 200 Dollar monatlich erhöht wurde und im August 1943 endete.

Der Naziverbrecher des Films: Wilhelm Grimm (Alexander Knox, rechts)
Der Naziverbrecher des Films: Wilhelm Grimm (Alexander Knox, rechts)

Im Januar 1943 sprachen Than und Neumann mit Bischoff über einen Stoff für einen Anti-Nazi-Film, und Than überzeugte den Produzenten von einer Idee, die er schon länger verfolgte. Angeregt von der Ankündigung des amerikanischen Präsidenten Roosevelt, dass die Nazi-Kriegsverbrecher nach Kriegsende vor einem internationalen Gerichtshof angeklagt werden sollten, schlug Than ein „post-war picture“ (Nach-Kriegs-Film) vor, in dem ein „hochrangiger Nazi-Anführer“ und zwar „der frühere Reichskommissar in Polen“ angeklagt werden sollte vor einem „Welttribunal“ der Vereinten Nationen – die es 1943 noch gar nicht gab!

Die Wahl Polens als Schauplatz des Prozesses verdeutlicht, dass Than und Neumann von Anfang an planten, das tabuisierte Thema der Judenverfolgung und -vernichtung aufzugreifen, denn sowohl die amerikanische Regierung als auch die Öffentlichkeit waren schon seit Herbst 1942 informiert über die Vernichtungslager in Polen und über die „Endlösung“. Um ihr Ziel zu erreichen, gingen die beiden Autoren, unterstützt von ihrem Produzenten, strategisch vor. Sie berücksichtigten nämlich die Vorgaben des MPB und schilderten in ihrem Treatment auch die Verfolgung der Polen sowie den kirchlichen Widerstand, rückten aber die Judenverfolgung und -vernichtung ganz eindeutig in den Mittelpunkt, was im Film später durch die krass-realistische Inszenierung von André De Toth noch verstärkt wurde. Um möglichen Einwänden zuvorzukommen, hielten die Autoren sich auch strikt an die Fakten, sie benutzten als Quelle das Schwarzbuch der polnischen Exilregierung, das 1942 in den USA erschienen war und in dem alle im Film geschilderten Nazi-Verbrechen an Juden und Polen dokumentiert sind. Die Berufung auf die öffentlichen Ankündigungen Roosevelts und Churchills, deren Reden im O-Ton ursprünglich den Film einleiten sollten, dienten ebenfalls als Schutzschild für ihr Vorhaben, die „Endlösung“ endlich im Film zu thematisieren.

Autoren, Produzent und Studio waren sich natürlich der Brisanz des Themas bewusst und reichten deshalb schon die erste Fassung des Drehbuchentwurfs dem MPB zur Begutachtung ein. Dieser erste Entwurf unterscheidet sich zwar sehr vom späteren Film, aber schon darin stehen Judenverfolgung und -vernichtung eindeutig im Zentrum: In diesem Treatment beauftragt Hitler persönlich den Reichskommissar Grimm mit „der Ehre, sein Programm der Rassenbeseitigung in Polen auszuführen“ und Grimm führt diesen Auftrag mit ebenso viel Brutalität wie Präzision durch: „Große Akte der Grausamkeit, darunter die Ermordung von Wagenladungen von Juden und ihres Rabbis, Dr. Levin, folgen.“

Die Strategie von Neumann und Than war erfolgreich, denn weil ihr Treatment die „Unterdrückung nicht nur der Juden, sondern auch der katholischen Kirche durch die Nazis“ schilderte, gab das Hollywood-Büro des MPB grünes Licht für den Film und erwartete sogar „a really great picture“. Das in den Nationalen Archiven der USA erhaltene Gutachten des MPB lobt vor allem die Darstellung des übernationalen „Kriegsschuldtribunals“, damit sollte das Filmpublikum in Europa und Lateinamerika für die Idee gewonnen werden, nach Kriegsende durch Gerichtshöfe der Vereinten Nationen „eine Weltordnung basierend auf Recht und Gesetz“ zu schaffen.

Nach diesem positiven Bescheid überarbeiteten Neumann und Than ihren Entwurf und von ihrer zweiten Fassung existiert ein ausführliches Manuskript „LEBENSRAUM Großes Treatment“ im Nachlass Alfred Neumanns in der Münchner Stadtbibliothek. Dieses Filmskript enthält bereits die vollständige Handlung und alle Charaktere des späteren Films. Es ist überwiegend in deutscher Sprache verfasst, zahlreiche Dialoge sind jedoch in englischer Sprache ausgeführt, die wörtlich in den Film übernommen wurden. Das Manuskript war wohl die Vorlage für die neue, leider nicht auffindbare vollständig englisch geschriebene Version, die wiederum Grundlage war für das endgültige Drehbuch, das von dem politisch engagierten Drehbuchautor Lester Cole geschrieben wurde. Cole hat sich dabei eng an die von Neumann und Than entwickelte Originalstory gehalten, wie er selbst 1981 in seiner Autobiographie „Hollywood Red“ geschildert hat. Er übernahm in seinem Drehbuch auch die ursprünglich vorgesehene Anfangssequenz, in der der Prozess gegen Grimm in einen größeren Rahmen eingebettet wurde. Der Film sollte beginnen mit der Wiedergabe der originalen Reden von Roosevelt, Churchill und Stalin aus dem Off, dazu sollten Bilder von internationalen Gerichtshöfen in allen europäischen Hauptstädten mit den realen Nazi-Verbrechern als Angeklagte gezeigt werden. In Berlin sollte Hitler gemeinsam mit Göring, Himmler, Goebbels und anderen Nazi-Führern auf der Anklagebank sitzen, in Rom Mussolini, in Frankreich Laval, in Oslo Quisling usw. Die Sequenz endete mit dem Gericht in Warschau, das der Gerichtspräsident mit den Worten eröffnen sollte: „Der Tag des Gerichts ist gekommen, doch nicht der Tag der Rache.“ Diese sehr aufwändige Sequenz ist jedoch vermutlich aus finanziellen Gründen gestrichen und im Film durch eine schlichte Schrifttafel ersetzt worden.

Einer der Zeugen vor Gericht: Der Priester und Widerständler Warecki (Henry Travers)
Einer der Zeugen vor Gericht: Der Priester und Widerständler Warecki (Henry Travers)

Nazi-Verbrechen vor Gericht

Zu Beginn des Films wird eine Hakenkreuz-Flagge eingeholt, auf einer Schrifttafel wird erklärt:

„Die Zeit dieser Geschichte ist die Zukunft. / Der Krieg ist vorbei. / Wie es versprochen wurde, sind die Verbrecher dieses Krieges zum Prozess an die Schauplätze ihrer Verbrechen zurückgeführt worden. / Tatsächlich wird, wie unsere Anführer es versprochen haben - - NIEMAND ENTKOMMEN“

Im Gerichtssaal des „Internationalen Kriegsverbrechertribunals Abteilung Warschau“ sitzen erhöht im Halbrund die Vertreter der Vereinten Nationen, in der Mitte der Vorsitzende, der frontal das Publikum anspricht und auf die Verantwortung des Gerichts auch für die zukünftige Weltordnung hinweist: „Die Anführer der Nazi-Partei stehen heute in Polen wie auch in den anderen Hauptstädten von Europa vor Gericht. Heute sitzen wir hier, um ein Urteil zu sprechen über die, die der Menschheit unsagbare Qualen zugefügt haben. Wir müssen uns, unserer großen Verantwortung nicht nur gegenüber der Vergangenheit, sondern auch gegenüber der Zukunft bewusst sein. Durch die Nazi-Besatzung in den eroberten Ländern wurde eine vollständige Aufzeichnung der Nazis und der Nazi-Kollaborateure gesichert.“

Angeklagt wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist der frühere Reichskommissar der westlichen Region Polens“ Wilhelm Grimm“ (Alexander Knox) der auf „Nicht schuldig“ plädiert. In der Verhandlung schildern drei Zeugen in mehrfach unterbrochenen Rückblenden Grimms Verbrechen und seine Karriere zwischen 1919 und 1939, die eng verbunden ist mit dem Aufstieg der NSDAP. Dabei wird deutlich, dass Grimm wie alle anderen Naziführer aus freiem Willen und eigener Verantwortung und keineswegs nur auf Befehl gehandelt hat. Vermutlich aus diesem Grund haben die Autoren bereits im „Großen Treatment“ die Szene mit Hitler aus dem ersten Exposé gestrichen.

Als erster Zeuge schildert der katholische Pater Warecki (Henry Travers) die Ereignisse 1919 in dem westpolnischen Dorf Litzbark, in dem Christen und Juden friedlich miteinander leben. Die geistlichen Führer des Dorfes sind der Priester und der mit ihm befreundete Rabbi David Levin (Richard Hale), denn der Film vermeidet jede Anspielung auf den Antisemitismus in Polen. Grimm war hier vor 1914 Lehrer und obwohl er im Krieg auf deutscher Seite gekämpft hat, kehrt er 1919 nach Litzbark zurück, wo seine Verlobte, die Lehrerin Marja Pacierkowski (Marsha Hunt), auf ihn gewartet hat. Grimm erhält auch seine alte Anstellung wieder, aber er ist verbittert, denn er hat im Krieg ein Bein verloren und fühlt sich als Krüppel verachtet. Er kann die Niederlage des Deutschen Reichs nicht verwinden, hasst den Frieden und will weiter kämpfen für ein deutsches Weltreich, für einen „Lebensraum von Berlin bis Bagdad“. Sein Hass entfremdet ihm Marja, und aus Rache vergewaltigt er die Schülerin Anna Oremski, die danach Selbstmord begeht. Die aufgebrachten Dorfbewohner verhaften Grimm, im Tumult wirft ein Schüler ihm das linke (sic!) Auge aus. Aus Mangel an Beweisen wird er freigelassen und bittet den Priester und den Rabbi um Geld, damit er nach Deutschland fliehen kann.

Der zweite Zeuge, Wilhelm Grimms liberaler Bruder Karl (Erik Rolf)
Der zweite Zeuge, Wilhelm Grimms liberaler Bruder Karl (Erik Rolf)

Dort schließt Grimm sich früh der NSDAP an, wie sein Bruder Karl (Erik Rolf), ein liberaler Journalist, als zweiter Zeuge berichtet. Grimm sieht in Hitler den Retter, der Deutschland zur Weltherrschaft führen wird. Er nimmt am „Novemberputsch“ teil und wird zu Festungshaft verurteilt, die er dank der Partei im Luxus genießt. Mit dem Aufstieg der NSDAP macht auch Grimm Karriere, 1933 wird er stellvertretender Minister für Erziehung. Seinen Bruder, der als politischer Gegner der Nazis entlassen worden ist und mit seiner Familie emigrieren will, lässt er verhaften und ins Konzentrationslager bringen. Seinen Neffen Willie (als Erwachsener: Richard Crane) erzieht er zu einem gläubigen und gehorsamen Nazi, in ihm sieht er seinen „Sohn im Geiste“, der später im Krieg sein Adjutant wird.

Als letzte Zeugin berichtet die Lehrerin Marja, wie Grimm 1939 nach der Niederlage Polens zurückkehrt und als Reichskommissar das Dorf Litzbark terrorisiert. Er verlangt von den hungernden Bauern, Ernte und Vieh an die deutschen Truppen auszuliefern und lässt die Höfe und Häuser plündern. Die Dorfbewohner werden gedemütigt und gezwungen, sich für Propagandaaufnahmen der Nazi-Wochenschau filmen zu lassen; die Schulkinder müssen ihre polnischen Bücher verbrennen, denn die polnische Kultur soll ausgelöscht werden. Alle Männer zwischen 16 und 60 Jahren müssen Zwangsarbeit leisten oder werden in Arbeitslager nach Deutschland deportiert, die Mädchen und jungen Frauen werden in Offiziersbordelle verschleppt. Die Soldaten plündern die Synagoge, verbrennen die Thorarollen und treiben ihre Pferde in die Synagoge, die ihnen als Stall dient. Alle Juden aus der Umgebung werden ohne Wasser und Brot in Viehwaggons getrieben, um sie zu deportieren. Die gemeinsamen Proteste von Rabbi und Priester sind vergeblich, deshalb ruft der Rabbi die Juden zum Widerstand auf. Sie greifen die Soldaten an, werden aber alle auf Grimms Befehl mit Maschinengewehrsalven erschossen, Grimm selbst erschießt den Rabbi.

Das brutale Vorgehen Grimms schockiert seinen anfangs linientreuen Neffen Willie, er beginnt mit den Dorfbewohnern zu sympathisieren und verliebt sich in Marjas Tochter Janina (Dorothy Morris). Als Grimm davon erfährt, schickt er Janina zur Strafe in das Offiziersbordell, wo sie bei einem Fluchtversuch erschossen wird. Daraufhin sagt Willie sich von den Nazis und seinem Onkel los und nimmt an der Totenmesse für Janina teil, die Pater Warecki trotz des Verbots von Grimm abhält. Als Willie an Janinas Bahre niederkniet, erschießt Grimm ihn von hinten.

Die Zeugin Marja ordnet Grimms Verbrechen abschließend in den größeren Zusammenhang ein und betont, dass es nicht Grimm allein war, der diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübte, sondern dass er nur einer von vielen Nazis war: „Die nach ihm gekommen sind, mögen ihre Formen der Folter und Brutalität variiert haben, aber sie waren die gleichen, sie waren alle Wilhelm Grimms, sie waren Nazis.“

Die Lehrerin Marja (Marsha Hunt) tritt als letzte Belastungszeugin auf
Die Lehrerin Marja (Marsha Hunt) tritt als letzte Belastungszeugin auf

Grimm hat die Zeugenaussagen unbewegt angehört, in seinem Schlusswort weigert er sich, Gericht und Urteil anzuerkennen und prophezeit, dass Nazi-Deutschland sich wieder und wieder erheben werde. Der Vorsitzende Richter verkündet kein Urteil, sondern appelliert an das Publikum, an alle Männer und Frauen der „Vereinten Nationen“, das Urteil über Grimms Schuld und Bestrafung zu fällen.

Ein Film „für die Gerechtigkeit“

Der Name Grimm des Reichskommissars und der ursprüngliche Filmtitel „Lebensraum“ verweisen auf den Schriftsteller Hans Grimm und seinen 1926 erschienenen Roman „Volk ohne Raum“. Die Nationalsozialisten benutzten den populären Romantitel als Schlagwort für ihre Forderungen nach Lebensraum im Osten. Grimms Vorname Wilhelm ist eine Anspielung auf Kaiser Wilhelm II. und deutet den Imperialismus des „Dritten Reichs“ als Fortsetzung des imperialistischen Kaiserreichs, in diese Richtung zielen auch die von Grimm im Film geäußerten Vorstellungen von der Weltherrschaft des Nazi-Reichs.

Anfang August 1943 verpflichtete das Columbia Studio den exilierten ungarischen Regisseur André De Toth für die Regie des Films, der eine sehr persönliche Beziehung zu dessen Thema hatte, denn er hatte im September 1939 den deutschen Überfall auf Polen selbst miterlebt: „[…] Es war etwas, das ich seit dem 1. September 1939 machen wollte.“, schrieb er 1994 in seinen Erinnerungen „Fragments. Portraits from the Inside“: „’None Shall Escape‘ wurde für die Gerechtigkeit gemacht.“ Die Szene mit den Propaganda-Aufnahmen für die Nazi-Wochenschau hatte er selbst erlebt: „Das Schreckliche war, dass sie die hungernden Menschen aufreihten und wie Hunde schlugen. Dann rollten die Kameras und die Nazis schrien: ‚Lacht! Lächelt!“ Und die Menschen lächelten und sie gaben ihnen das Brot“, erzählte er in einem Interview. „Dann stoppten sie die Kameras. ‚Genug!‘ Und die Soldaten nahmen das Brot weg. Sie zeigten diese Dinge in ganz Deutschland, auf der ganzen Welt. ‚Seht her‘, sagten sie, ‚wir sind nicht so schlecht.‘“

Bei der Besetzung des Films wollte De Toth kein „Déjà-vu“ mit Darstellern, die bereits aus anderen Anti-Nazi-Filmen bekannt waren und engagierte den noch wenig bekannten Schauspieler Alexander Knox für die Hauptrolle, auch Richard Hale gab in der Rolle des Rabbi seinen Einstand als Charakterschauspieler in Hollywood. Besonders wichtig war ihm die Besetzung der internationalen Jury mit Menschen aller Nationen. Deshalb engagierte er zum Beispiel den chinesisch-stämmigen Schauspieler Wong Chung und gegen den Widerstand des Studiochefs Harry Cohn setzte er durch, dass auch ein schwarzer Amerikaner in der Jury vertreten war, denn „keine Schwarzen in einer internationalen Jury zu haben, wäre so, wie auf Hitlers Weg zu wandeln“, argumentierte er und besetzte auch den afro-amerikanischen Schauspieler Jesse Graves als Jury-Mitglied.

Die Darstellung der Nazi-Propagandamethoden erfolgt nach authentischen Vorbildern
Die Darstellung der Nazi-Propagandamethoden erfolgt nach authentischen Vorbildern

Die Verbrechen Grimms an Anna, seinem Bruder und seinem Neffen sind angelehnt an bekannte Topoi der Anti-Nazi-Filme wie Gewalt gegen Frauen oder der Riss durch die Familie, denn wie es typisch für Hollywoods Anti-Nazi-Filme war, wird auch in „None Shall Escape“ politisches Geschehen personalisiert und mit privaten Schicksalen verbunden. Doch unterscheidet sich der Film deutlich von anderen Filmen durch die Darstellung der auf Fakten basierenden Kriegsverbrechen, die Grimm keineswegs aus Rache begeht. Er ist vielmehr von seiner Sendung überzeugt, dass für das deutsche Volk neuer ‚Lebensraum‘ geschaffen werden muss und handelt bei seinen Verbrechen gegen die polnische Bevölkerung und die Juden als kühl kalkulierender Nazi und Militär.

„None Shall Escape“ wurde von Ende August bis Ende Oktober auf dem Gelände der Columbia Ranch in Burbank gedreht, wo das polnische Dorf aufgebaut worden war. De Toth inszenierte den Film in realistischen, fast dokumentarischen Bildern. Die Atmosphäre der Gerichtsverhandlung bleibt stets kühl-sachlich, und auch in den krassen Szenen der Nazi-Verbrechen wie die brutale Behandlung der polnischen Zwangsarbeiter, die Schändung der Synagoge und ihre Nutzung als Pferdestall bleibt seine Inszenierung realistisch. Dabei macht De Toth stets deutlich, dass diese Gräuel planmäßig verübt werden. Durch seine Inszenierung gewinnt der Film ein hohes Maß an Authentizität, wie auch die Kritik damals bestätigt hat.

Dramatischer Höhepunkt ist das brutale Massaker an den Juden, wobei die Schilderung des jüdischen Widerstands sicherlich beeinflusst ist durch die Nachrichten über den Aufstand im Warschauer Ghetto im Frühjahr 1943.

Die Handlung und Dialoge der Sequenz sind weitgehend wörtlich aus dem Treatment von Than und Neumann übernommen, in dem der Pater und der Rabbi gemeinsam bei Grimm in dessen Büro gegen die Deportation protestieren: „Das ist Mord! Kein einziger Jude wird mehr leben, wenn der Viehwagen ausgeladen wird!“, hält der Rabbi Grimm vor und der Pater begehrt auf: „Vor Gott und dem Menschen protestiere ich gegen dieses Verbrechen an der Menschheit!“ Als ihr Protest erfolglos bleibt, eilen sie mit Marja und Janina zu den Bahngleisen, wo die Juden in Viehwaggons getrieben werden, Grimm und Willie folgen ihnen. Der Rabbi bittet Grimm erneut: „Geben Sie es nicht zu, Herr Grimm, geben Sie Befehl, die Verladung zu stoppen.“ Als Grimm sich nicht rührt, ruft der Rabbi zum Widerstand auf: „Gehorcht nicht! Geht nicht in den Wagen! Wehrt euch! Wehrt euch!“ Als die verzweifelten Juden gegen die Soldaten stürmen, werden sie „niedergeschossen wie Hunde“.

Rabbi Levin (Richard Hale) ruft zum Widerstand auf.
Rabbi Levin (Richard Hale) ruft zum Widerstand auf.

Diese beiden Szenen haben Cole und De Toth verschmolzen zu einer einzigen aktionsgeladenen und hochdramatischen Szene an den Bahngleisen, die etwa fünfeinhalb Minuten dauert. Während die Soldaten Männer, Frauen und Kinder unter der Aufsicht von Grimm und seinen Leutnants in die Viehwaggons treiben, protestieren Rabbi und Priester gegen die Deportation. Als der Protest an Grimm förmlich abprallt, wendet sich der Rabbi mit einer leidenschaftlichen Rede an die Juden und ruft sie zum Widerstand auf: „Uns bleibt nicht viel Zeit, an unsere Taten wird man sich erinnern, das ist unsere letzte freie Wahl, unser Moment in der Geschichte, und ich sage euch: Lass uns den Kampf wählen, hier und jetzt.“ Damit stürzt der Rabbi sich als erster auf einen Soldaten, wird aber niedergeschlagen, die Männer und Frauen springen aus den Waggons und greifen die Soldaten an, die auf Grimms Befehl das Feuer eröffnen und mit mehreren Maschinengewehrsalven alle Juden erschießen.

Der schwer verletzte Rabbi prophezeit Grimm: „Wir werden niemals sterben, ihr werdet es, ihr alle“, bevor dieser ihn erschießt. Er stirbt in den Armen von Pater Warecki unter dem Warnschild „Uwaga-Pociag“ (Achtung-Zug) das wie ein Kreuz aussieht, dessen Schatten auf die Leichen der ermordeten Juden fällt. Die auch durch die Musik des exilierten Komponisten Ernst Toch dramatisch gesteigerte Szene führte dem Publikum schonungslos die Ermordung der Juden vor Augen: „Es mag für einen Amerikaner schwierig sein, sich selbst davon zu überzeugen, dass das, was er sieht und hört, nicht ein fantastischer Albtraum ist, erdacht von den Filmmachern aus Hollywood. Doch ‚None Shall Escape‘ basiert auf Fakten – auf den ganzen berüchtigten Aufzeichnungen der Nazi-Ausplünderung von Polen“, schrieb der Filmkritiker Philip K. Scheuer in der „Los Angeles Times“.

Stinkbomben und Jubel: Reaktionen von Kritik und Publikum

Die erste Kritik des Films kam vom MPB, das „None Shall Escape“ schon Ende Dezember 1943 sichtete und den Film einschätzte als „durchdachte und intelligente Untersuchung dieses wichtigen Nachkriegsproblems“ – nämlich der Bestrafung der Nazi-Kriegsverbrechen – und auch die „extrem realistischen“ Szenen der Nazi-Verbrechen hervorhob, besonders des Massakers und des jüdischen Widerstands. Die professionelle Filmkritik dagegen reagierte uneinheitlich, die Skala reichte von der rückhaltlosen Zustimmung Scheuers bis zur offenen Enttäuschung. So hielt Bosley Crowther, der Kritiker der „New York Times“, den Film lediglich für „einen weiteren Film, der nichts über die Nazis aussagt, das nicht schon gesagt worden wäre“.

Die fanatische Befolgung der Nazi-Ideologie durch Wilhelm Grimm entzweit ihn schließlich auch mit seinem Neffen (Richard Crane).
Die fanatische Befolgung der Nazi-Ideologie durch Wilhelm Grimm entzweit ihn schließlich auch mit seinem Neffen (Richard Crane).

Auch das Publikum nahm den Film kontrovers auf, es kam sogar zu wütenden Protesten, Lester Cole erinnerte sich in seiner Autobiographie, dass in „deutsch-ethnischen Teilen von Brooklyn und der Yorkville-Sektion von Manhattan Stinkbomben in die Kinos geworfen worden. Es gab Schlägereien. Es gab einige Festnahmen. Aber anderswo wurde der Film sehr gut aufgenommen, und an vielen Orten, jubelten die Zuschauer, wenn der Rabbi seine Leute zum Widerstand aufrief und sie es taten.“ Sowohl die Skandale als auch die „Oscar“-Nominierung für die Original-Story nutzten dem Film, der auch an der Kinokasse erfolgreich war und in vielen Ländern in Europa und Lateinamerika nach dem Krieg gezeigt wurde – aber in Deutschland ist der Film nie in die Kinos gekommen oder im Fernsehen ausgestrahlt worden.

Das Massaker und die „aufwühlende Rede“ des Rabbi wurden zwar von den meisten Kritikern als dramatischer Höhepunkt besonders hervorgehoben, aber nur Manfred George wies in seiner Rezension darauf hin, dass „None Shall Escape“ damit das Tabu der Darstellung der Judenvernichtung durchbrochen hatte. Seine Hoffnung, dass dies erst ein Anfang der Beschäftigung Hollywoods mit dem Holocaust sei, erfüllte sich damals jedoch nicht, „None Shall Escape“ blieb „der einzige zur Kriegszeit herausgekommene Film [Hollywoods], der die ‚Endlösung‘ thematisierte“, konstatierte die New Yorker „Village Voice“ anlässlich einer Wiederaufführung 1992.



Quellen und Lektürehinweise:

Der Text ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung des Beitrags „Der Holocaust vor dem ‚World Tribunal‘: None Shall Escape.“ In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 34/2016: Exil und Shoah. München 2016, S.302-322 und beruht wesentlich auf Forschungen in Archiven in Deutschland und den USA. Wichtige und benutzte Werke zum Thema Antisemitismus und Hollywood sind:

Michael E. Birdwell: Das andere Hollywood der dreißiger Jahre. Die Kampagne der Warner Bros. gegen die Nazis. Hamburg, Wien 1999.

Steven Alan Carr: Hollywood and Anti-Semitism. A Cultural History Up To World War II. Cambridge University Press 2001.

Judith E. Doneson: The Holocaust in American Film. Philadelphia, New York, Jerusalem 1987.

Vollständige filmografische Angaben zu „None Shall Escape“ in der InternetMovieDataBase (www.imdb.com) und dem American Film Institute Catalog (https://aficatalog.afi.com/)


„None Shall Escape“ ist auf Youtube zu sehen

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