Die Hongkonger Regisseurin Ann Hui zählt seit mehr als vier Jahrzehnten zu den wichtigsten Filmemacherinnen Asiens. Als zentrale Figur der Hongkonger Neuen Welle trat sie Ende der 1970er-Jahre mit politischen Filmen in Erscheinung, drehte aber auch Komödien, Melodramen, Horror- und Martial-Arts-Filme oder Thriller. Alle ihre Filme sind vom Individuum her gedacht, weshalb den Schauspielern darin stets eine besondere Rolle zukommt. Bei der 77. „Mostra“ wurde sie soeben mit einem „Goldenen Löwen“ für ihr Lebenswerk geehrt.
In ihrem persönlichsten Film, „Lied der Verbannung“ (1990), erzählt die Regisseurin Ann Hui eine Familiengeschichte, die eng mit ihrer eigenen verwandt ist. Eine junge Frau, die in England studiert, fliegt nach Hongkong, um die Hochzeitsfeier ihrer Schwester zu besuchen. Die Reise lässt Erinnerungen wach werden an eine Jugend in Macao und Hongkong – und insbesondere an Konflikte mit ihrer Mutter. Die stammt, wie auch Huis Mutter, aus Japan. Während des Zweiten Weltkriegs war sie als Teil der japanischen Besatzungsmacht in die Mandschurei ausgewandert und hatte dort einen Chinesen geheiratet. Sie liebt ihren Mann und ihre beiden Kinder, wird aber dennoch das Gefühl der Einsamkeit und Fremdheit fern der Heimat nicht los. Die Kinder wiederum erfahren die Mutter als eine verschlossene, kalte Frau und gehen ihrerseits auf Distanz.
Im Film gibt es eine zweite Reise, nach Japan, ins Geburtsdorf der Mutter, die beide Frauen einander näherbringt. Die Tochter versteht plötzlich kein Wort mehr von dem, was um sie herum gesprochen wird, und beginnt zu verstehen, wie sich ihre Mutter viele Jahrzehnte lang gefühlt haben muss; die Mutter stellt ihrerseits fest, nachdem die erste Wiedersehensfreude verklungen ist, dass sie sich in ihrer vermeintlichen Heimat längst nicht mehr heimisch fühlt. Am Ende von „Lied der Verbannung“ versöhnen sich die beiden nicht nur miteinander, sondern auch mit ihrem Wahlwohnort Hongkong. Anders ausgedrückt: Erst in dem Moment, in dem sie das Nicht-zuhause-sein als Bedingung ihrer Existenz anerkennen, finden Mutter und Tochter so etwas Ähnliches wie eine Heimat.
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Das verweist auf den besonderen Status, den
Hongkong im Werk von Ann Hui einnimmt. Die Stadt, in der die Regisseurin lebt
und arbeitet, ist in ihren Filmen keine isolierte Enklave des britischen Empire
oder von heute aus betrachtet: keine chinesische Großstadt, die sich mit jedem
Jahr weniger von anderen chinesischen Großstädten unterscheidet; es ist
vielmehr eine multikulturell geprägte asiatische Metropole, deren Geschichte
eng mit den historischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts verwoben ist.
Hongkong war nicht nur das Tor des Westens zu China, sondern seit Beginn des 19. Jahrhunderts auch ein Nexus sehr unterschiedlicher Migrationsbewegungen. Vom chinesischen Festland her flohen Menschen vor Armut, Bürgerkrieg oder später dem maoistischen Terror in die Stadt; Migranten aus Südostasien hofften auf ein besseres Leben dank westlicher Finanzkraft; in der Kronkolonie angekommen, sahen sie sich dann aber mit krasser Diskriminierung konfrontiert. Während zahlreiche Einheimische vor allem im Vorfeld der Rückgabe der Hoheitsrechte an China im Jahr 1997 – wie auch derzeit wieder, nach dem harschen Durchgreifen Pekings gegen die Demokratisierungsbewegung – alles daransetzten, die überfüllte Stadt in Richtung England oder USA zu verlassen.
Es ist gerade nicht die gemeinsame Herkunft, sondern die geteilte Erfahrung des Nicht-zuhause-seins, die den Kern der Identität von Hongkong ausmacht – und von der aus auch das Filmschaffen von Ann Hui seinen Ausgangspunkt nimmt.
Zentrale Figur der Hongkonger Neuen Welle
Hui selbst entschied sich nach zwei Jahren Filmschule in London, im Jahr 1975 in die damalige britische Kronkolonie zurückzukehren. Sie begann fürs Fernsehen zu arbeiten und entwickelt schnell ein Gespür für die sozialen und historischen Verwerfungen Hongkongs, als deren vielleicht wichtigste Chronistin sie heute gelten kann. Ende der 1970er-Jahre wechselte sie ins Kino und wurde zu einer der zentralen Figuren der Hongkonger Neuen Welle.
Das Hongkong-Kino der 1970er-Jahre, in das die Neue Welle hineindrängte, wurde noch von einem strikt hierarchischen Studiosystem und oft hochgradig artifiziellen Studioproduktionen dominiert. Ann Hui und die meisten ihrer damaligen Mitstreiter*innen sind hingegen nicht in der lokalen Filmindustrie sozialisiert, sondern haben Filmschulen besucht und/oder den Weg zum Kino übers Fernsehen gefunden. Die jungen Wilden waren gar nicht unbedingt auf Revolution aus; viele von ihnen, darunter auch Hui, entwickelten eine Affinität zu den Formen des populären Hongkong-Kinos, insbesondere zum Horror- und Martial-Arts-Film. Aber sie sehnten sich nach Filmen, die diese Formen mit neuem Leben erfüllen, sie näher an die soziale Realität der Stadt heranrückten, in der sie leben und arbeiten.
Huis Frühwerk ist ziemlich wild. Ihr phänomenaler, jüngst aufwändig restaurierter Erstling „The Secret“ (1979) ist ein komplexer, fast schon abstrakter Thriller, der einen brutalen historischen Doppelmord zum Thema hat, diesen aber nicht einfach linear nacherzählt, sondern um ihn herum eine detektivische Fiktion über eine junge Frau spinnt, die sich gezwungen sieht, einen neuen Blick auf die sie umgebende Stadt einzuüben. Wo gerade noch Alltag war, sieht sie plötzlich Zeichen eines verborgenen Schreckens, der früher oder später an die Oberfläche, in den Bereich des Sichtbaren, drängen muss. Danach folgt mit „The Spooky Bunch“ (1980) ein radikaler Tonartwechsel: eine luftige, hochgradig bewegliche Gruselkomödie voller fantasievoller Spezialeffekte und doppelter Böden um eine Theatertruppe, die von einer Geisterarmee heimgesucht wird – Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, die noch eine Rechnung mit der Gegenwart zu begleichen haben.
Durchbruch mit zwei Vietnam-Filmen
Der Durchbruch gelang ihr mit zwei Filmen, die den Abschluss ihrer bereits 1978 mit einem Fernsehdrama begonnenen Vietnam-Trilogie bilden. Bekannter ist heute „Boat People“ (1982), in dem ein japanischer Journalist eine Reise durchs kommunistische Nachkriegs-Vietnam unternimmt und dabei Erlebnisse macht, die seine linken Ideale infrage stellen. Die alptraumhaften Bilder von politischer Gewalt, mit denen er im Laufe seiner Recherche konfrontiert wird, gehen einem nicht mehr so schnell aus dem Kopf.
Der Vorgängerfilm „The Story of Woo Viet“ (1982) ist mindestens genauso sehenswert. Der spätere Superstar Chow Yun-Fat spielt in seiner ersten Kinorolle einen vietnamesischen Flüchtling, den es auf der Flucht vor seiner eigenen Vergangenheit erst nach Hongkong und dann auf die Philippinen verschlägt. Hui inszeniert das als eine Reise in die Unterwelt: Wie Orpheus begibt sich der Vietnamese auf die Spur seiner Eurydike, einer jungen Frau, die in die Fänge von Menschenhändlern geraten ist.
Diesen beiden Filmen verdankt Ann Hui ihren Ruf als eine politische, sozial engagierte Filmemacherin. Den Vorwurf der Parteilichkeit, der vor allem nach „Boat People“ aufkam, hat die Regisseurin jedoch stets von sich gewiesen. Sie sieht sich keiner Ideologie, sondern nur der Geschichte selbst verpflichtet: als einer grundlegenden Dimension menschlichen Existenz. Wobei man hier noch einen Schritt weitergehen sollte. Dass wir alle immer schon, mit Haut und Haaren, historische Wesen sind, ist zunächst nur ein Gemeinplatz. Zum Kern von Ann Huis Kino stößt man erst vor, wenn man die Perspektive umdreht: Geschichte ist etwas, das sich immer zuerst an Menschen vollzieht. Sinnlich nachvollziehbar wird sie erst, wenn und nur insoweit wie sie sich im Persönlichen, Privaten realisiert. Historisches Kino im Sinne von Ann Hui kann nicht bedeuten, eine private Geschichte „vor dem Hintergrund“ dieses oder jenes Ereignisses zu erzählen. Vielmehr geht es darum, den emotionalen Kern von Geschichte selbst greifbar zu machen.
Weichere Tonarten im Schaffen von Ann Hui
Besonders eindrücklich gelingt Hui dies in einem Film aus der Mitte der 1980er-Jahre: „Eine Liebe in Hongkong“ (1984) ist eine Literaturverfilmung, ein Melodram, das im Hongkong des Zweiten Weltkriegs spielt, kurz vor und während der japanischen Besatzungszeit. Erzählt wird die Geschichte zweier Liebender, die ihre Gefühle füreinander erst zu artikulieren lernen, wenn um sie herum Bomben fallen. Vielleicht, heißt es am Ende des Films, musste die Stadt nur deshalb zerstört werden, damit diese beiden Menschen zusammenfinden. Im Kino von Ann Hui ist ein solcher Satz keine Anmaßung, sondern Ausdruck der höchstpersönlichen Innervierung von Geschichte.
Ungemein elegant, im klassischen Studiostil inszeniert, markiert „Eine Liebe in Hongkong“ vorderhand einen deutlichen Bruch mit dem rohen, ungestümen Frühwerk. So rau wie Chow Yun-Fats Passagen durch die Rotlichtviertel Manilas sind die späteren Filme Huis tatsächlich nur noch selten. Insbesondere ab Ende der 1980er-Jahren dringen andere, weichere, manchmal auch sentimentale oder alberne Tonarten in ihr Filmschaffen ein. Damit folgt sie – freilich nur an der Oberfläche – dem Geist der Zeit. Wie die meisten Neuen Wellen war auch die in Hongkong nach ein paar Jahren weitgehend abgeklungen. Nur wenigen Regisseur*innen gelang es, dauerhaft in der Branche Fuß zu fassen. Einige der ambitioniertesten Filmemacher, etwa Allen Fong oder Patrick Tam, konnten nur eine Handvoll Filme realisieren. Tsui Hark wiederum, der mit weitem Abstand kommerziell erfolgreichste unter den jungen Wilden, war bereits Mitte der 1980er-Jahre im Zentrum der Industrie angekommen und ist seither damit beschäftigt, alle paar Jahre das Hongkonger Spektakelkino – und inzwischen das ganz Chinas – neu zu erfinden.
Ann Hui selbst hat einfach immer weitergearbeitet und ist in fast allen wichtigen Genres der Filmindustrie von Hongkong zuhause: Komödie, Melodram, Horror, Thriller, Martial Arts. Sie hat Filme über Alzheimer gedreht („Sommerschnee“, 1995) und über lesbische Liebe („All About Love“, 2010), über Stuntfrauen („Ah Kam“, 1996) und Supermarktangestellte („The Way We Are“, 2008). 26 Kinofilme bisher, der 27. steht in den Startlöchern. Entstanden ist ein Werk, das nicht nur im Hongkong-Kino seinesgleichen sucht. Scheinbar mühelos hat es alle Brüche der letzten Jahrzehnte im Hongkong-Kino überstanden; insbesondere den einen großen Bruch im Jahr 1997, die Übertragung der Hoheitsrechte von Großbritannien an China. Tatsächlich hatte Ann Hui früher als die meisten ihrer Kolleg*innen Kontakt zur Filmszene der Volksrepublik aufgenommen. Schon „Boat People“ ist auf festlandschinesischen Sets gedreht, was die Regisseurin aber nicht daran hinderte, 1992 das Fernsehdrama „Where Are You Going?“ zu inszenieren, eine der hellsichtigen Abrechnungen mit dem chinesischen Autoritarismus, die im Vorgriff auf 1997 in Hongkong entstanden sind.
Vielleicht ist gerade die Vielfalt ihrer Filme der Grund dafür, dass Ann Hui als vielleicht einzige Regisseurin ihrer Generation dem Geist der Neuen Welle bis heute treu geblieben ist. Triebkraft ihres Kinos ist kein ästhetisches Ideal, sondern eine nicht zu sättigende Neugier auf die Welt. Hui dreht offensichtlich nur Filme, die ihr persönlich am Herzen liegen; gleichzeitig ist sie aber keine klassische Autorenfilmerin. Sie ist nur selten ihre eigene Produzentin, und noch seltener ihre eigene Drehbuchautorin. Ihre Filme zeichnen sich zwar stets durch höchste handwerkliche Sorgfalt aus, aber anders als ihre Zeitgenossen wie etwa Johnny To, John Woo oder Wong Kar-Wai kultiviert Hui keine klar erkennbare stilistische Handschrift.
Von Individuen her gedacht
Gemeinsam ist allen ihren Filmen lediglich, dass sie von Individuen her gedacht sind. Das heißt einerseits, dass Huis Filme sich voneinander genauso sehr unterscheiden wie die Menschen, von denen sie erzählen. Zum anderen lenkt es den Blick auf das Schauspiel. Es geht um Techniken der Verkörperung, um die Art und Weise, wie sich eine spezifische Erfahrung durch einen spezifischen Körper hindurch realisiert. Huis Arbeit mit ihren Darsteller*innen ist so brillant, dass sie den Blick auf die Stars, mit denen sie arbeitet, nachhaltig verändert. Der Actionheld Chow Yun-Fat war später nie wieder so verletzlich wie in „The Story of Woo Viet“, Anthony Wong, bekannt vor allem aus ruppigen Horror- und Gangsterfilmen, brilliert in Huis „Ordinary Heroes“ (1999) als hochgradig emotionaler italienischer (!) Priester, die coole, elegante Maggie Cheung ist in „Lied der Verbannung“ plötzlich wieder ein naives, trotziges Mädchen.
Letztlich ist es Huis Vertrauen in Schauspieler*innen, das ihr Kino lebendig hält, es im besten Sinne unberechenbar macht. Dank einfühlsamer Alltagsdramen wie „The Postmodern Life of My Aunt“ (2006) oder „Tao Jie – Ein einfaches Leben“ (2011) ist sie vor allem im Ausland inzwischen vor allem als Kinohumanistin bekannt. Aber auch das ist zu kurz gedacht, weil es Menschen gibt, die selbst nicht allzu humanistisch zugange sind. „Night and Fog“ (2008) etwa ist ein Sozialdrama im Albtraum-Modus. Es geht um einen derangierten Familienvater (Simon Yam), der Frau und Kinder in einer winzigen Hochhauswohnung das Leben zur Hölle macht. Alles ist um die Performance des Hauptdarstellers herum organisiert: Yam ist von Anfang an außer Rand und Band, und bald springt die Psychose auf den Film selbst über; die raumzeitliche Kohärenz kollabiert, zersplittert in ein Nebeneinander inkompatibler Perspektiven, die sich nicht mehr zu einer geteilten Erfahrung zusammenfügen lassen.
„Our Time Will Come“
In einem ihrer jüngsten Filme kehrt Ann Hui erneut zum Hongkong der japanischen Besatzungszeit während des Zweiten Weltkriegs zurück. „Our Time Will Come“ (2017) ist gewissermaßen der Gegenschuss zu „Eine Liebe in Hongkong“. Nicht das Leid der Zivilbevölkerung steht diesmal im Zentrum, sondern der Befreiungskampf chinesischer Rebellen. Das emotionale Zentrum ist eine Plansequenz: Zhou Xun, die eine der Guerillakriegerinnen spielt, läuft gemeinsam mit einem Mitstreiter eine nächtliche Straße entlang und beginnt, über ihr Leben nachzudenken. Sie macht sich insbesondere Vorwürfe, weil sie ihre Mutter in den politischen Kampf hineingezogen hat. Während sie, den Tränen nahe, über ihre Beziehung zu der älteren Frau reflektiert, wendet sie sich immer mehr von ihrem Mitstreiter ab und der Kamera zu. Nur so, im offenherzigen, persönlichen Kontakt auf Augenhöhe, hat soziales Handeln einen echten, bleibenden Wert.