© imago/Sven Simon (Heidi Schüller und Detlef Lewe beim Olympischen Eid 1972 in München)

Zur Sache, München

Es gibt keinen Schatten ohne Licht: Die Münchner Olympiade 1972 und ihr Nachleben im Kino

Veröffentlicht am
02. Februar 2023
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Am 26. August jährt sich der Beginn der XX. Olympiade 1972 in München zum fünfzigsten Mal. Von den „heiteren Spielen“, die von den Morden an den israelischen Sportlern überschattet wurden, erzählen sehr unterschiedliche Filme, in denen sich Aufbruch und Ende einer Epoche spiegeln, die nicht nur die Erinnerungen an die Nazi-Zeit hinter sich lassen wollte. Ein Rückblick auf das Nachleben von Olympia 1972 im Kino.


München 1972 – 8 berühmte Regisseure sehen die Spiele der XX. Olympiade“ heißt der offizielle Olympiafilm, wie er seit 1912 von jeder Olympiade produziert wird. Er beginnt mit einer roten Sonne, was unweigerlich an den gleichnamigen Film von Rudolf Thome denken lässt und die „Münchner Gruppe“, zu der auch Eckardt Schmidt und Michael Pfleghaar gehörten. Deren Bedeutung wird gerade wiederentdeckt und ist von der Olympiade 1972 nicht zu trennen. Die Filme der Münchner Gruppe waren innovativ und stilbewusst, und doch völlig anders als der Neue Deutsche Film. Ganz ohne didaktische Ambitionen sprachen sie durch Bilder und Taten, nicht so sehr durch Worte und Behauptungen.

Ganz ähnlich verstanden auch die prägenden Köpfe der Münchner Olympiade ihre Aufgabe. Sie wollten einer neuen Zeit Gestalt geben. Nichts sollte mehr an die Nazi-Olympiade 1936 in Berlin erinnern. Das begann schon in der Architektur des Münchner Olympiageländes von Günther Benisch und Frei Otto und im Symbol-Design von Otl Aicher: Rot und Schwarz, die Farben der Diktaturen, wurden vermieden, stattdessen dominierten Pastelltöne. Man baute keine Kampfarena für Gladiatoren, sondern einen offenen Treffpunkt aus organischen Formen, ohne Härte und Schwere, Ecken und Kanten.

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) schloss sich dieser Grundhaltung des Offenen an und vergab den offiziellen Olympiafilm erstmals nicht an eine einzelne Person, sondern an ein Kollektiv, vielleicht auch als einen Gegenentwurf zu dem so weltbekannten wie berüchtigten „Olympia“-Film von Leni Riefenstahl.


Dokumentarfilm von Spielfilmregisseuren

„Visions of Eight“, wie der Film im Original heißt, dessen Bilder komplett während der Olympiade in München entstanden, ist ein Gemeinschaftsfilm, der trotz der Vielzahl seiner Regisseure dennoch mit einer Stimme spricht, nämlich der Stimme einer ganzen Generation. Alle Beteiligten waren Spielfilmregisseure; nur einer von ihnen, der Brite John Schlesinger, besaß ernsthafte dokumentarische Erfahrungen. Aber alle acht Regisseure waren herausragende Meister ihres Fachs, manche sogar weltberühmt wie Arthur Penn oder Milos Forman und Claude Lelouch. Aus Deutschland war Michael Pfleghar dabei, damals eine singuläre und bemerkenswerte Stimme des Neuen Deutschen Films.

Milos Forman bei den Dreharbeiten in München (imago/Everett Collection)
Milos Forman bei den Dreharbeiten in München (imago/Everett Collection)

Die Filme sind jeweils etwa 15 Minuten lang und episodisch konzipiert. Der Gesamtfilm ist erkennbar bemüht, das Episodische, Beiläufige und Fragmentarische nicht zu verschleiern und trotzdem einen Zusammenhang zu formen. Ein paar Mal kehrt das Motiv des olympischen Feuers wieder; es bildet eines der Leitmotive, etwa im Fackelläufer, der es zur Eröffnung entzündet. Verlierern gilt nicht weniger Aufmerksamkeit als den Siegern, und auch der handwerklich-technischen Seite des Sports wird eher mehr Aufmerksamkeit eingeräumt als der Kunst.

Der japanische Regisseur Kon Ichigawa seziert den 100-Meter-Lauf als Ballett grotesker, lebensgroßer Roboter mit aufgeblasenen Wangen und verzerrten Gesichtern. Und die Schwedin Mai Zetterling schneidet Bilder der massigen Gewichtheber gegen Schweinehälften auf dem Schlachthof. Wahrscheinlich kann nur eine Frau die Erscheinung dieser fleischigen Recken so unverblümt ausstellen – und sie zugleich aber auch als Menschen erscheinen lassen.


Die Grazie der Frauen

Die beiden überzeugendsten Beiträge in „Visions of Eight“ stammen von John Schlesinger und Michael Pfleghar. Pfelghar erzählt von den Frauen der Spiele in München. Das scheint zu Pfleghar zu passen, der als Regisseur der jungen Mädchen galt. Die Frauen waren die Stars bei dieser Olympiade: Heide Rosendahl und Olga Korbut, Ulrike Meyfarth und Shane Gould, Ljudmilla Bragina und Heidi Schüller. Bei Pfleghar sieht man die Körperlichkeit der Sportlerinnen, man erkennt sie aber auch als Personen. Ein Anflug der „heiteren Spiele“ ist hier am stärksten zu spüren. Manche der Frauen sehen sexy aus, viele hübsch, alle schön. Pfleghar zeigt die jungen Frauen auch dabei, wie sie sich am Rande des Sportfelds schminken, kurz vor dem Wettkampf in den Spiegel schauen; er fängt aber auch die Anspannung und den Stress ein, etwa bei Ulrike Meyfarth vor ihrem berühmten Hochsprung. Das ist noch immer spannend, auch weil man weiß, was kommt. Und dann das Siegerinnen-Gesicht von Heide Rosendahl nach ihrem Weitsprung.

Immer wieder blickt Pfleghar auf die Konzentration vor dem Kampf. Auch Frauen kämpfen; das ist etwas, was man in ihren Gesichtern sieht. Pfleghar filmt das sehr explizit. „Visions of Eight“ ist in diesem Sinne auch ein emanzipatorischer Film, sogar in seiner Musik, auch wenn die gelegentlich an ein Platzkonzert erinnert. Wirkliche Grazie und Eleganz sieht man im Finale von Pfleghars seriell montiertem Beitrag, bei einer einzigen Frau, bei Ljudmila Turischtschewa, der sowjetischen Kunstturnerin, deren Ausstrahlung die ganze Welt bezauberte. Eine Übung am Reck wird zum Höhepunkt, in Zeitlupe, in der sich Kraft mit Anmut mischen. Wobei Olga Korbut fast nie lächelt.


Jahre der Befreiung

Ist es eine Überinterpretation, wenn man in diesem 15-minütigen Film und in Pfleghars Blick auf vor allem junge, sportliche Frauen und auf das, was Weiblichkeit ausmacht und essentiell von Männlichkeit unterscheidet, etwas von dem zu erkennen glaubt, was die spezifischen Münchner Filme der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre zusammengehalten und durchzogen hat?

Die Siegerinnen der 4x100-Meter-Staffel: Annegret Richter, Ingrid Mickler Becker, Heide Rosendahl, Christiane Kraus (v.l.; imago/Sven Simon)
Die Siegerinnen der 4x100-Meter-Staffel: Annegret Richter, Ingrid Mickler Becker, Heide Rosendahl, Christiane Kraus (v.l.; imago/Sven Simon)

Auch die Olympiade war eine Kulturrevolution, eine rasante Modernisierung und Veränderung der Stadt München, die sich binnen weniger Jahre von einer sehr konservativen, ein bisschen dumpfsinnigen, Schwabinger Bohème und Pseudogriechen-Pathos mischenden ehemaligen „Hauptstadt der Bewegung“ zur modernsten Metropole in Deutschland aufschwang, zur „Weltstadt mit Herz“. Auch der Neue Deutsche Film zeigte ja ein anderes Deutschland. Es waren Jahre einer grundsätzlichen Befreiung. Breitenwirksame Zeichen dafür waren etwa die erste deutsche Ausgabe des „Playboy“, die im Sommer 1972 erschien. Oder dass Uschi Glas als einer der ersten weiblichen Filmstars jenseits des 1950er-Jahre-Kinos im Olympia-Sommer zum Covergirl der „Bravo“ wurde. Mit „Zur Sache Schätzchen“ (1968) war sie im Minikleid und mit schwarzem Wuschelkopf berühmt geworden. Der Film schrieb deutsche Filmgeschichte und lockte sechseinhalb Millionen Zuschauer in die Kinos.

Vielleicht hatte die Leichtigkeit dieser „Jet Generation“ (Eckhard Schmidt) auch etwas mit der Olympiade zu tun und nicht umgekehrt. Vielleicht war dieser Blick der ganzen Welt auf München auch der Auslöser für einen inneren Wandel, der sich in den Filmen niederschlug. Jedenfalls waren die sechs olympischen Jahre 1966 bis 1972 auch die beste Zeit des deutschen Films. Danach kam es zur „Tendenzwende“, in jeder Hinsicht. Der Blick wandte sich von der Zukunft ab.


Schwellenjahr 1972: Das Ende der Euphorie

Die „Visions of Eight“-Regisseure zeigen fast nur die heiteren Spiele, wie sie es bis zum Abend des 4. September waren. Dann kam der nächste Morgen. Im Rückblick auf die Eröffnungsfeier zeigt John Schlesinger die israelische Mannschaft beim Einmarsch ins Stadion, und man will in ihren Gesichtern schon die Torturen erahnen, die sie in Zukunft erleiden werden. Wieder sieht man das olympische Feuer, jetzt überblendet mit den Hubschraubern von Fürstenfeldbruck; die Trauerfeier, die olympische Flagge auf Halbmast, Zuschauertränen, die nicht gestillt werden.

Der Film ist geprägt von der Unschuld des Augenblicks, durchzogen von aller Euphorie und von aller Melancholie der Epoche. Dann kam der Terror, der alles veränderte.

Im Rückblick erscheint das Jahr 1972 als ein Schwellenjahr, als ein Kipppunkt, nicht nur der Sport-, sondern auch der kulturellen und politischen Geschichte. Aus heutiger Sicht markiert es das Ende der Euphorie. Den Beginn der „Grenzen des Wachstums“. Von heute aus ist 1972 das Jahr, in dem das Zeitalter des internationalen Terrorismus begann, der die demokratischen Gesellschaften seitdem nicht mehr losgelassen hat.

Im Kino fand der Terror erst 1976 Eingang: „Die 21 Stunden von München“ heißt die im groben Ablauf sehr genaue, in den Einzelheiten sehr freie Rekonstruktion der Ereignisse rund um die Geiselnahme im Olympischen Dorf. Jost Vacano führte in der US-Produktion von William A. Graham die Kamera, in der William Holden den Polizeichef Manfred Schreiber und Franco Nero seinen Gegenspieler Issa spielt. Eine überzeugende Figur gibt auch Anneliese Graes ab (gespielt von Shirley Knight), jene Mitarbeiterin des Ordnungsdienstes, die freiwillig zur Vermittlerin wurde und deren Rolle heute von Historikern als sehr bedeutend eingeschätzt wird.

William Holden (r.) in "Die 21 Stunden von München" (imago/United Archives)
William Holden (r.) in "Die 21 Stunden von München" (imago/United Archives)

Bemerkenswert sind die Auftritte vieler bekannter deutscher Darsteller in Nebenrollen: Georg Marischka als Innenminister Hans-Dietrich Genscher, Günther Maria Halmer, Michael Degen, Herbert Fuchs, Sky Dumont und Robert Atzorn. Sie spielen in einem Film, der solide und nicht reißerisch erzählt ist, aber wenig Spannung besitzt, da der Ausgang bekannt ist. Der größte Reiz des Films besteht wohl darin, dass er an den Originalschauplätzen in der Conollystraße 31 gedreht wurde, mit Originalmaterial wie Plakaten, Lampen, Fahrzeugen.


Exakte Fiktionen

1972“ heißt auch ein Film der britischen Videokünstlerin Sarah Morris aus dem Jahr 2008, der wohl am ehesten als archäologisch zu bezeichnen ist. Morris lässt darin ausführlich Georg Sieber zu Wort kommen, den Polizeipsychologen der Münchner Polizei. Er war vom IOC und der Münchner Polizei angestellt worden, um Gefährdungsszenarien zu entwerfen und die Sicherheitsdienste vorzubereiten. Eines seiner Szenarien war eine nahezu exakte Vorhersage: Sieber warnte schon lange vor der Eröffnung der Olympischen Spiele am 26. August 1972 genau vor dem, was dann tatsächlich passierte. Er wurde nicht gehört.

Sieber war an jenem tragischen Morgen des 5. Septembers 1972 in der Connollystraße zugegen. Seinen Job hängte er später an den Nagel. Im Film entwirft er eine differenzierte Analyse der Ereignisse jenes Tages. Morris verknüpft in der Montage seine Aussagen mit Bildern polizeilicher Überwachung von Demonstranten und archivierten Fotografien der Sommerspiele von 1972 sowie mit Ansichten des eindrucksvollen Olympiaparks in München.

"1972" von Sarah Morris (Sarah Morris)
"1972" von Sarah Morris (Sarah Morris)

Der Film, auf 35 mm gedreht, zeigt eine subjektive Sicht auf die Ereignisse von 1972, die sich ästhetisch wie inhaltlich von den gängigen Darstellungen unterscheidet.


Fiktionale Geschichtsschreibung

Was kam nach der Katastrophe, die die Beteiligten bis heute nicht losgelassen hat?

Eine der vielen Nachgeschichten erzählte Steven Spielberg in „München“ (2005). Darin gibt die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir den Auftrag zur Bestrafung der Mörder. Spielberg erzählt dies als eine Mischung aus moralischer Fabel und Thriller. Es geht um Vergeltung und was dies mit den Menschen macht. Spielberg beschäftigt nicht so sehr die Frage, ob ein Rechtsstaat Terroristen aus Rache töten darf. Vielmehr geht es darum, welche Folgen die Vergeltung hat und wie man damit umgehen kann; das moralische Dilemma steht im Zentrum, nicht die Antwort darauf.

Das Resultat ist höchst ambivalent. Der Realitätsgehalt von „München“ ist gering, aber der Film wirft politisch wie moralisch wichtige Fragen auf.

Dahinter gerät die Ästhetik des spannenden Films allerdings in den Hintergrund: „München“ ist ein Message-Film. Was man sieht, soll in jedem Fall etwas bedeuten. Über die Beziehung der Handlung zu realen Ereignissen ist viel geschrieben worden. Ob es jemals einen Auftrag der israelischen Regierung zur Liquidierung der Attentäter und ihrer Hintermänner gab, ist nicht bekannt. Die angeblich gnadenlose Reaktion Israels ist reine Fiktion. Als Filmszene gehört sie zu den starken Momenten. Golda Meir sitzt mit Geheimdienst-Offizieren am Tisch und diskutiert die israelische Reaktion auf das Münchner Attentat.

München ist ja auch in einem weiteren Sinne eine Metapher; es ist die Stadt Adolf Hitlers und die „Hauptstadt der Bewegung“, und es ist der Ort der „Münchner Konferenz“, der tiefsten Selbstdemütigung aller Demokratien auf dem Höhepunkt der Appeasement-Politik. Dass ausgerechnet hier israelische Sportler ermordet wurden, nur weil sie Juden waren, besitzt eine bittere Logik. Nie wieder, lautet Golda Meirs Argumentation in „München“, sollen Juden sich vom Terror demütigen lassen. Auf den Exzess von Fürstenfeldbruck muss deshalb Gegenwehr die Antwort sein, nicht Appeasement.

Nicht Rache, sondern Vergeltung: "München" (imago/Prod.DB)
Nicht Rache, sondern Vergeltung: "München" (imago/Prod.DB)

Doch im Laufe des Films stellt Spielberg genau diese Erkenntnis infrage. Er legt Golda Meir einen Satz in den Mund, den sie nie ausgesprochen hat und vermutlich auch nie akzeptiert hätte: „Every civilization finds it necessary to negotiate compromises with its own values“, jede Zivilisation kommt an den Punkt, wo sie mit ihren eigenen Werten Kompromisse schließen muss. Dieser Satz war eher auf den damals amtierenden US-Präsidenten George W. Bush gemünzt. Die Logik der israelischen Politik besteht gerade darin, ihre eigenen Werte zu verteidigen. Israel übt nicht Rache, sondern Vergeltung. Israelis nehmen keine Geiseln, sie töten nicht gezielt Unschuldige. Ohne „Kollateralschäden“ zu verteidigen oder zu akzeptieren und auch ohne der israelischen Politik in jedem Fall Recht zu geben, ist dies die fundamentale Differenz zwischen dem Terror der Palästinenser und der Vergeltung der Israelis: Israel zündet keine Splitterbomben in Schulbussen, sondern tötet gezielt Auftraggeber und Hintermänner.

Ein großes Problem von „München“ ist deshalb der Umgang mit der fiktionalen Geschichtsschreibung. Der Film verleiht Ereignissen Bilder, die niemand je gesehen hat, von deren Ablauf keiner etwas weiß. Er suggeriert eine „Wahrheit“, die es nicht gibt. Spielbergs Version der Geschichte setzt sich als Faktum in den Köpfen fest, zumindest vorläufig. Das verstellt allerdings nicht nur den Blick auf die historische Wahrheit, sondern leider auch den Blick für die künstlerischen Stärken von „München“.

Die Ereignisse der Olympischen Spiele 1972 und ihre Nachwehen warfen einen Schatten auf die an ihnen beteiligten Menschen, der bis heute nicht vergehen will. Dennoch bleibt auch die Erinnerung an die XX. Olympiade als an die heiteren Spiele bestehen. Es gibt keinen Schatten ohne Licht.

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