© Eventpress (Ehrenpreisträger Volker Schlöndorff)

Immer noch ein Wunder

Der Deutsche Filmpreis 2023: Ein Fazit

Veröffentlicht am
26. Mai 2023
Diskussion

In der deutschen Filmbranche hat es vor der Verleihung der 73. Deutschen Filmpreise rumort: Debatten um Machtmissbrauch am Set, Vorwürfe des Filmnachwuchses wegen fehlender Innovation, aber auch die Auswahlkriterien des Preises standen einmal mehr unter Beschuss. Die „Lola“-Gala am 12. Mai griff die Kontroversen allerdings kreativ auf und ließ sich die Lust am Feiern nicht verderben. Wobei der bereits „Oscar“-gekrönte Antikriegsfilm „Im Westen nichts Neues“ den Abend keineswegs komplett dominierte.


Will es plötzlich niemand mehr gewesen sein? Als Jasmin Shakeri als Moderatorin der 73. Gala zum Deutschen Filmpreis davon spricht, dass echte „O.G.s“ im Saal des Theaters am Potsdamer Platz seien, muss sie noch einmal extra um Applaus bitten, bevor das Publikum tatsächlich wohlwollenden Beifall spendet. Sogar die deutsche Filmbranche muss sich offensichtlich noch an die Gegenwart von „O.G.s“ – womit nichts anderes als „Oscar-Gewinner:innen“ gemeint sind – gewöhnen, zu denen in diesem Jahr mit den vier Auszeichnungen für „Im Westen nichts Neues“ eine unverhofft hohe Zahl dazugekommen ist. Nie dagewesen ist auch eine zeitliche Abfolge, bei der der Triumph von Edward Bergers Neuadaption des Antikriegsromans bei den „Academy Awards“ (ganz zu schweigen von den sieben Auszeichnungen bei den Britischen Filmpreisen kurz davor) der „Lola“-Gala um zwei Monate vorausging und der Deutschen Filmakademie damit einen potenziellen Gewinner gleichsam auf dem Silbertablett präsentierte.

Dass „Im Westen nichts Neues“ der Starfilm des Abends werden würde, war quasi ausgemacht, und tatsächlich dominierte der Film die Preisverleihung über weite Strecken. Nachdem bereits die ersten vier Auszeichnungen für die männliche Nebenrolle (die vierte (!) „Lola“ für Albrecht Schuch), den Ton, das Maskenbild und die Kamera allesamt an „Im Westen nichts Neues“ gegangen waren, schien es kurzfristig eine sehr einseitige Veranstaltung zu werden, da der Film immerhin noch in acht weiteren Kategorien nominiert war.


Am Ende ein Kopf-an-Kopf-Rennen

Doch der Deutsche Filmpreis widerlegte 2023 eines der häufigen Vorurteile gegen seine Preisauswahl, nämlich dass er in der Entscheidung für den Jahresfavoriten allzu berechenbar sei.

Denn die „Lola“-Verleihung 2023 machte aus dem vermeintlichen Durchlauf am Ende ein Kopf-an-Kopf-Rennen, das sich erst spät als solches erkennen ließ. Ilker Çataks Schuldrama „Das Lehrerzimmer“ war zwar hinter „Im Westen nichts Neues“ mit sieben Nominierungen angetreten, doch mehr als ein solider zweiter Platz schien hinter dem internationalen Überflieger schwer möglich zu sein.

An dieser Wahrnehmung änderten zunächst auch die ersten Preise für den Film – für das Drehbuch von Ilker Çatak und Johannes Duncker, für den Schnitt von Gesa Jäger und für Leonie Benesch als Hauptdarstellerin – wenig. Aufmerken durfte man im Grunde erst kurz vor Schluss der dreieinhalbstündigen Veranstaltung, als auch der Regiepreis an Çatak statt an Berger ging.

Einmal mehr eine Klasse für sich: Albrecht Schuch mit seiner vierten „Lola“ (© Eventpress)
Einmal mehr eine Klasse für sich: Albrecht Schuch mit seiner vierten „Lola“ (© Eventpress)

Wie schon bei der Drehbuch-Auszeichnung dankte der Regisseur mit herzlichen Worten seinem Co-Autor, der ihn als sein Schulfreund erstmals an gute Filme herangeführt habe – eine Ode an die Inspiration, die sich im direkten Vergleich überzeugender ausnahm als das Lob, das Günter Rohrbach kurz zuvor „Im Westen nichts Neues“ gezollt hatte: „Ich bin stolz, dass ein solcher Film aus Deutschland heraus produziert werden konnte.“ Was aus der Perspektive eines Mannes wie Rohrbach, der einst „Das Boot“ produzierte, zweifellos stimmig ist, wenn man sich die guten bis exzellenten Einzelleistungen vor Augen hält, aus denen der Antikriegsfilm besteht. Doch ergibt sich aus der Summe lobenswerter Details ja keineswegs zwangsläufig ein überzeugendes Ganzes, und so ist die wenig später verkündete Entscheidung auch für das Filmband in Gold an „Das Lehrerzimmer“ letztlich weniger sensationell, als es zunächst scheint.

Am Ende haben die Akademie-Mitglieder schlicht mehrheitlich für denjenigen Film unter den Nominierten votiert, der seine selbstgestellten Ziele am besten umgesetzt hat: Wo „Im Westen nichts Neues“ das entscheidende Quäntchen fehlt, um aus seinen schonungslosen Blicken auf die Hölle des Ersten Weltkriegs eine filmische Haltung zu entwickeln, die aus ihm mehr als ein formal beachtliches Werk machen würde, hat „Das Lehrerzimmer“ tatsächlich das Potenzial zu einem deutschen Klassiker. Die feine Abstimmung der Dialoge, das Gespür für die wechselnden Frontlinien innerhalb des Schulkosmos, die pointierte Zuspitzung von Vorurteilen, all das sind Aspekte, die im Kino über das deutsche Bildungssystem in dieser Gewandtheit tatsächlich noch nicht zu erleben waren. Insofern passen die Worte des Filmproduzenten Ingo Fliess, der die „Gold-Lola“ für „Das Lehrerzimmer“ entgegennahm, ausgesprochen gut: „Wir brauchen Strukturen, in denen kreative Freiheit belohnt wird und Innovation möglich ist.“


Vielbeschworene „Arbeit auf Augenhöhe“

Mit dem Thema des Machtmissbrauchs, das in "Das Lehrerzimmer" im Umgang zwischen Lehrern und Schülern, aber auch innerhalb der einzelnen Gruppen stets mitschwingt, liegt der Hauptgewinner des Deutschen Filmpreises 2023 auch nahe an den Debatten, mit denen sich die Filmbranche aktuell konfrontiert sind. Die auch mehrere Wochen nach den „Manta, Manta – Zwoter Teil“-Vorwürfen gegen Til Schweiger noch immer schwammig und überwiegend auf Boulevard- und Social-Media-Niveau geführten Diskussionen über ein angeblich verbreitetes „Klima der Angst“ auf deutschen Filmsets blieben bei der Gala nicht außen vor.

Vor allem die gekürten Teammitglieder von „Im Westen nichts Neues“ wie auch „Das Lehrerzimmer“ betonten immer wieder, wie sehr die jeweiligen Drehs von einer „Arbeit auf Augenhöhe“, von Neugier und gegenseitigem Respekt geprägt gewesen sei. Auch der an sich vertraute Dank an das Vertrauen der Produzenten in ihre Projekte hatte einen nachdrücklicheren Tonfall als in anderen Jahren, nachdem unlängst auf dem Kongress „Zukunft Deutscher Film“ zahlreiche junge Filmschaffende eine allgemeine Scheu der Branche vor innovativen Ideen beklagt und einen „Appell des jungen deutschen Films“ unter dem Motto „Angst essen Kino auf“ aufgesetzt hatten.

Produzent Ingo Fliess mit der „Gold-Lola“ für „Das Lehrerzimmer“ (© Eventpress)
Produzent Ingo Fliess mit der „Gold-Lola“ für „Das Lehrerzimmer“ (© Eventpress)

Volker Schlöndorff schließlich nahm seinen überfälligen Ehrenpreis nicht nur mit Humor („Ich hab’ gedacht: Hab’ ich den nicht schon?“) entgegen, sondern zeigte nonchalant auch den Unsinn an der wohlfeilen Forderung auf, neue Anstandsregeln und Ehrenkodexe für Filmsets zu definieren. Obendrein griff er die Kritik an der Auswahlpraxis der Filmakademie auf. Diese hatte sich 2023 vor allem daran entzündet, dass der langjährige Filmpreis-Kandidat Christian Petzold es mit „Roter Himmel“ nicht einmal in die Vorauswahl geschafft hatte.

Auch wenn man darin nicht den Skandal sehen muss, als den ihn manche Petzold-Aficionados sehen wollen, hatten sich auch die Akademie-Präsident:innen Alexandra Maria Lara und Florian Gallenberger im Vorfeld der Verleihung schon zur Rechtfertigung veranlasst gesehen und versprochen, das Auswahlverfahren zu überdenken. Schlöndorff nahm indirekt Bezug darauf in einer emotionalen Erinnerung an die Grundideen der Akademiegründung vor zwanzig Jahren: „Wir werden auch einen Weg finden, dass wir die Preise in Zukunft besser und gerechter aussuchen.“

Warmherzig und gefühlig ging es an diesem Abend auch in manch anderer der Dankesreden zu: Leonie Benesch, Albrecht Schuch und auch Felix Kammerer, der für sein Kinodebüt in „Im Westen nichts Neues“ prompt den Hauptdarsteller-Preis gewann, erinnerten an die im Januar 2023 überraschend an Krebs verstorbene Casting-Direktorin Simone Bär und ihre Verdienste bei der Entdeckung und Förderung von Talenten – unter anderem bei den beiden Hauptgewinner-Filmen dieser „Lola“-Verleihung.

Beim Gewinn der „Lola in Bronze“ verwiesen die Produzenten des etwas überraschend bei den Deutschen Filmpreisen aufgetauchten Thrillers „Holy Spider“ vom in Dänemark arbeitenden Iraner Ali Abbasi darauf, dass der Film ohne deutsche Unterstützung nicht gedreht hätte werden können, und rundeten damit ab, dass im Laufe des Abends immer mal wieder auf die traurige Aktualität des Films um einen fundamentalistischen Frauenmörder verwiesen worden war. Nicht zuletzt durch die iranisch-stämmige Moderatorin Jasmin Shakeri, die explizit einen anderen Umgang Deutschlands mit dem iranischen Regime anforderte, das neben allem übrigen den Beteiligten an „Holy Spider“ eine Rückkehr in den Iran unmöglich mache.


Facettenreich und temperamentvoll

Ließ die Schauspielerin und Sängerin Shakeri es in dieser Hinsicht nicht an klaren Worten fehlen, erwies sie sich generell als eine facettenreiche Gastgeberin, von der die Gala sehr profitierte. Der Wechsel zwischen Scherzen mit den Gästen zu ernsten, respektvollen Einlassungen auf die Filme und ihre Macher gelang ihr mit beachtlicher Leichtigkeit. Shakeri war derart gut vorbereitet und energievoll, dass die Gäste sich in der Fülle ihrer Anspielungen mitunter erst zurechtfinden mussten. In ihrem Auftritt bewies die „Lola“-Gala ein Temperament, an dem festgehalten werden sollte, ebenso wie an den Laudationes zur Feier der einzelnen Gewerke, die um ein Vielfaches origineller formuliert waren als in früheren Jahren.

Der Auftakt zu einer facettenreichen Veranstaltung (© Eventpress)
Der Auftakt zu einer facettenreichen Veranstaltung (© Eventpress)

Sogar die Dankesreden hatten neben den vielbeschworenen „respektvollen Arbeitsklimas“ erinnerungswürdige Aspekte. So bedankte sich die Produzentin Roshanak Behesht Nedjad für die Ehrung des Jugendfilms „Mission Ulja Funk“ mit einem selbstgedrechselten Gedicht, „Im Westen nichts Neues“-Komponist Volker Bertelmann erinnerte an das Privileg des Friedens, unbehelligt von einem Land ins andere reisen zu können, und auch der zum siebten Mal nominierte und der ebenfalls für den Antikriegsfilm erstmals ausgezeichnete Szenenbildner Christian M. Goldbeck fand Worte zum Einrahmen: „Film bleibt für mich immer noch ein Wunder.“

Eines, das die Gäste der Gala auch in diesem Jahr mit dem Kinoerlebnis zusammenführten, was angesichts von neun Auszeichnungen für die Produktion eines Streaming-Dienstes nur vermeintlich ein Widerspruch ist. Denn was man gegen Netflix berechtigterweise auch vorbringen mag: Wenn je ein Netflix-Film nach großer Leinwand aussah, dann ist es „Im Westen nichts Neues“.


Alle Preisträger der Deutschen Filmpreise 2023


Filmband in Gold: "Das Lehrerzimmer

Filmband in Silber: "Im Westen nichts Neues

Filmband in Bronze: "Holy Spider

Bester Dokumentarfilm: "Elfriede Jelinek - Die Sprache von der Leine lassen

Bester Kinder- und Jugendfilm: "Mission Ulja Funk

Beste Regie: Ilker Çatak für "Das Lehrerzimmer"

Bestes Drehbuch: Ilker Çatak, Johannes Duncker für "Das Lehrerzimmer"

Weibliche Hauptrolle: Leonie Benesch für "Das Lehrerzimmer"

Männliche Hauptrolle: Felix Kammerer für "Im Westen nichts Neues"

Weibliche Nebenrolle: Jördis Triebel für "In einem Land, das es nicht mehr gibt"

Männliche Nebenrolle: Albrecht Schuch für "Im Westen nichts Neues"

Beste Kamera: James Friend für "Im Westen nichts Neues"

Bester Schnitt: Gesa Jäger für "Das Lehrerzimmer"

Beste Tongestaltung: Frank Kruse, Markus Stemler, Viktor Prásil, Lars Ginzel, Alexander Buck für "Im Westen nichts Neues"

Beste Filmmusik: Volker Bertelmann für "Im Westen nichts Neues"

Bestes Szenenbild: Christian M. Goldbeck für "Im Westen nichts Neues"

Bestes Kostümbild: Tanja Hausner für "Sisi & Ich"

Bestes Maskenbild: Heike Merker für "Im Westen nichts Neues"

Beste visuelle Effekte: Frank Petzold, Viktor Müller, Markus Frank für "Im Westen nichts Neues"

Besucherstärkster Film: "Die Schule der magischen Tiere 2"

Ehrenpreisträger: Volker Schlöndorff

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