Gott wohnt im Dunkeln

Über die Ästhetik heiliger Räume, und warum das Kino darauf immer wieder Bezug nimmt

Veröffentlicht am
23. Juni 2023
Diskussion

Über die Ästhetik heiliger Räume, und warum das Kino darauf immer wieder Bezug nimmt.


Wenn man in diesen Herbsttagen am späteren Nachmittag vom Taunus aus Richtung Frankfurt schaut, können einen Zweifel befallen, wo man sich befindet. Inmitten des sanft wellenden Häusermeers erhebt sich in der Ferne ein gleißendes Gebirge aus Licht und Glas: Downtown am Main, eine verführerisch funkelnde Manifestation von Macht und Reichtum. Hier müssen, so denkt man unwillkürlich, alle zentralen Lebensstränge zusammenlaufen, hier bündeln sich Geist und Kapital, Ästhetik und Einfluss. In Marc Bauders Banker-Film „Master of the Universe“ (2013) intoniert denn auch sakrale Musik das, was die repräsentative Architektur zum Ausdruck bringt, wenn die Kamera durch die Häuserschluchten von „Mainhattan“ gleitet: Alles strebt nach oben, elegant, fast schwerelos, geradezu überirdisch geordnet, in ein lichtes Nirwana, das alles Dunkle, Irdische transzendiert. Wo in früheren Jahrhunderten Kirchtürme oder mächtige Domkuppeln das Stadtbild prägten, dominieren heute die Kathedralen der Ökonomie. Den Anspruch ihrer Auftraggeber, die Welt nach Effizienz und Profitabilität zu formen, schreiben sie nicht nur als Baukörper in die Landschaft ein – sie formulieren ein universales Credo, dessen Verheißung weithin vor Augen steht. Die Wirklichkeit sieht freilich ganz anders aus: schmutzig-grau, billig, ausrangiert. Das Bankgebäude, das Bauder seinem Kronzeugen Rainer Voss als Bühne überlässt, um Licht in die Geschäfte der Finanzhäuser zu bringen, steht leer. Die Böden sind aufgerissen, aus den Kabelschächten quellen die Leitungen, durch die einst die Welt oder zumindest Milliarden bewegt wurden. Der ganze Glanz: nur Fassade, Gips, Tünche, dünne Metall-Panele. In den Erinnerungen des ehemaligen Investmentbankers Voss über das Innenleben der Türme tritt ein ähnliches Bild zutage: Hochfrequenzhandel, Hochfrequenzstress. „Jedes Jahr zehn Prozent mehr. Wie Du das machst, ist mir egal.“ Das Loch, das dort gähnt, wo einst Heerscharen hochbezahlter Händler rund um die Uhr irrsinnige Transaktionen durchs Internet jagten, wird zum Spiegelbild des rasenden Stillstand: ein Vanitas-Motiv aus dem Allerheiligsten der Finanzindustrie. Im Münchner Stadtteil Neuhausen steht ein Quader aus blauem Glas und Stahl, der den Frankfurter Geldtürmen architektonisch verwandt ist: die „Herz-Jesu-Kirche“, Anfang des Jahrtausends anstelle der abgebrannten Vorgängerkirche neu erbaut. Auf den ersten Blick ist das Gotteshaus nicht als solches zu erkennen. Die verspiegelte Schachtel könnte alles Mögliche sein, auch eine grandios überdimensionierte Garage, zumal sich die Südseite in Gestalt zweier Flügeltore komplett öffnen lässt. Doch der Geist eines Bauwerks lässt sich nie allein an seiner äußeren Gestalt ablesen. Werner Köhne schickt in seiner filmischen Studie „Spirituelle Räume“ die Kamera deshalb ins Innere, in einen aus Ahornholz errichteten zweiten Raumkörper, den man nur durch eine schmale Schleuse betreten kann. Eine Passage in eine andere Welt. Hier ist es still, wunderbar leer. Der leise Nachhall der Geräusche erzeugt in dem hallenartigen Baukörper wie von selbst eine andächtig-meditative Atmosphäre. Durch raffiniert gestaffelte Lamellen-Wände flutet unterschiedlich gebrochenes Licht ins Innere; an der Stirnseite wird ein raumhohes Kreuz erahnbar, dessen Konturen vom Lichteinfall mal akzentuiert, mal fast unsichtbar gemacht werden. Auch jenseits gottesdienstlicher Feiern strahlt der auratische Raum eine Wärme und Würde aus, die zum absichtslosen Verweilen anstiften, zu Einkehr und Sammlung. Wer sich darauf einlässt, erlebt den mitunter bestürzenden Wandel der je nach Tageszeit und Witterung wechselnden Stimmung, die auf einer Skala von transzendenter Weite und innerster Konzentration oszilliert. Solche ästhetischen Erfahrungen an der Schwelle des Numinosen sind für sakrale Bauten, zumindest in der abendländisch-christlichen Tradition, konstitutiv. Von der Romanik bis in die Gegenwart entwickelte sich eine zunehmend ausdifferenzierende Ästhetik kultisch-repräsentativen Bauens, in der spirituelle und herrschaftliche Dimensionen ununterscheidbar ineinanderflossen, so wie umgekehrt sakralbauliches Know-how auch für profane Wohn- und Zweckbauten genutzt wurde. Es liegt auf der Hand, dass das Kino als mythopoetischer Bildergenerator den ästhetischen Reichtum sakraler Formentfaltung von Anfang an für sich adaptiert hat. Zuvorderst geschah und geschieht dies in den fantastischen Genres, in denen Geister, Götter und Dämonen tragende Rolle spielen, also in Fantasy-, Science-Fiction-und Horror-Filmen. Das beginnt bei simplen inhaltlichen Bezugsnahmen, etwa dem Kirchen- oder Heiligtum-Asyl in Russel Mulcahys „Highlander“ (2005), wo die rivalisierenden Schwertkämpfer nur in Kirchen nicht um ihren Kopf fürchten müssen. Oder dem allfälligen Rekurs auf religiös konnotierte Licht-, Zeit- und Kalender-Symboliken (von „Intolerance“, 1917, bis „Der Hobbit. Smaugs Einöde“, 2013), ohne die einschlägige Stoffe kaum auskommen. Selbst ein visuell so innovativer Film wie James Camerons „Avatar“ (2009), der die All-Bezogenheit alles Lebendigen in einer rituellen Zeremonie am „Baum der Seelen“ in einer Mischung aus kultischer Feier und synergetischer Vernetzung ins Bild setzt, greift im Auge von Eywa, in das die sterbende Grace (Sigourney Weaver) entschwindet, auf ein traditionelles Licht-Motiv zurück.


Kein Ort, keine Zeit

Spannender wird es bei ästhetischen Anleihen, die sich nicht nur auf kirchlich-religiöse Codes beziehen, sondern deren Bedeutungsüberschuss kreativ weiterspinnen. Wenn in Brian de Palmas „Mission to Mars“ (2000) nach einer nicht enden wollenden Unglücksserie auf dem „roten“ Planeten endlich der „Schlüssel“ für ein kosmisches Artefakt gefunden ist, betritt die Crew einen bestürzend makellos weißen Raum, der unendlich erscheint, weil das Licht alle Ecken und Kanten schluckt. Das „Innere“ des außen gigantisch großen Bauwerks entpuppt sich als intimer, gerade transzendenter (Nicht-)Ort, an dem augenblicklich alle Strapazen getilgt sind, aufgehoben in einer freundlich-warmen, affirmativen Unendlichkeit, bis das Staunen der Astronauten schließlich in den Wunsch einer Rückkehr „nach Hause“ mündet – was die luzide Ewigkeit „erdet“ und in eine dann doch recht Disney-hafte Bilderwelt überführt. Am entgegengesetzten Ende der Skala existenzieller Bildfindungen bewegt sich ein Film wie „Hinter dem Horizont“ (1998) von Vincent Ward, in dem das auf dem Kopf stehende Kreuzgewölbe einer gotischen Kirche als „Höllen“-Metapher fungiert; Dantes Höllenszenarien vergleichbar, ein in schwärzester Düsternis und bleierner Schwere fixierter Zustand, an dem jede Hoffnung auf immer erloschen ist. In der kinderbunt-barocken Jenseits-Fantasie des Protagonisten (Robin Williams), der durch seine eigene, stark von Gemälden und Bauwerken bestimmte Imagination wandelt, markiert dies den äußersten Punkt der Verdammnis, visuell als radikale Umkehr des Strebens nach lichter Höhe umgesetzt, zu der dann auch noch ein filmisches „Absterben“ jeder Form von Beweglichkeit hinzutritt.


Bühne für Existenzdramen

In der Regel spielt der filmische Rekurs auf sakrale Räume in anderen, diesseitigen Regionen. In Dramen oder Komödien tauchen Kirchen bisweilen als markante Handlungsorte auf, die zur Charakterisierung der Protagonisten entscheidende Hinweise geben oder die inhaltlichen Auseinandersetzungen akzentuieren. So quält der von Clint Eastwood gespielte Boxtrainer Frankie in „Million Dollar Baby“ nach dem sonntäglichen Gottesdienst den Priester mit moralischen Dilemmata-Fragen, die auf eine unbewältigte Schuld hindeuten. Die schmucklose Kirche verleiht der Figur den entscheidenden Hintergrund, der dem Ringen mit der Frage, ob er dem Verlangen seiner gelähmten Boxerin nach Tötung nachgeben darf, erst seine existenziell-religiöse Dimension gibt. In Thomas Vinterbergs „Die Jagd“ (2012) kulminiert die Gegenwehr des fälschlicherweise des sexuellen Missbrauchs beschuldigten Pädagogen (Mads Mikkelsen) nicht zufällig inmitten der Christmette: Die Inszenierung sucht den kulturell bedeutsamen Moment des Weihnachtsgottesdiensts, um in der auf die Spitze getriebenen Wehrlosigkeit des Protagonisten wehrhaft dessen Unschuld zu verteidigen.


Das nicht Darstellbare sichtbar machen

Auch in Abel Ferraras wuchtigem „Bad Lieu­tenant“ (1993) fungiert ein schmuckloser New Yorker Kirchenraum in gewisser Weise als Bühne, auf der der seelische Kampf des bis ins Mark korrupten Polizisten (Harvey Keitel) deziert „christlich“ ausbuchstabiert wird: in der Konfrontation mit einer geschändeten Nonne, die ihrem Vergewaltiger vergibt, und der finalen Begegnung mit dem gekreuzigten Christus, die den selbstsüchtigen Cop um den Preis seines Lebens über sich hinauswachsen lässt. Mit etwas Abstand lassen sich in diesen filmischen Bezügen auf Inventar und Ästhetik sakraler Räume die Grundzüge des christlichen Bilderstreits aus dem 8. Jahrhundert erahnen, der um die Darstellbarkeit des Heiligen kreiste. Wo die abbildkritische Fraktion auf Wort und Dialog setzt, wagen sich die Bilderfreunde aufs Feld der Analogie, wobei die ambitioniertere Filmkunst stets um den Wert von Abstraktion und Reduktion wusste. Mit dem Eigensinn eines langen, kämpferischen Künstlerlebens hat Terrence Malick in „The Tree of Life“ (2011) beide Traditionen gleichermaßen bedient, in einem symphonisch-kaskadenhaften Mosaik aus Bildern und Worten, das bis zum Urknall zurückgreift, Evolution und Schöpfung verbindet und die innere Leere der gläsernen Himmelstürme in eine gewagte Ewigkeitssehnsucht überführt. Zu diesem Ringen um Sichtbarkeit, um einen Raum für die Begegnung des Menschen mit dem Heiligen, gehört auch ein Einwand: Biblisch hat dieser seinen Niederschlag in dem Satz gefunden, dass Gott im Dunklen wohnen will. Bildlich bezieht sich das auf die Bundeslade als Aufenthaltsort Gottes, im übertragenen Sinn aber auf ein bleibendes Geheimnis, eine Leerstelle, die nicht zu füllen ist. Eine Ahnung davon vermittelt die Bruder-Klaus-Kapelle des Schweizer Architekten Peter Zumthor, deren archaische Offenheit in Köhnes Film „Spirituelle Räume“ kongenial weiterklingt. Die Kapelle ist ebenfalls ein Turm, aus Lehm und Beton, der sich unauffällig in die hügelige Landschaft einpasst und von fern an die Bibliothek aus Jean-Jacques Annauds „Der Name der Rose“ (1986) erinnert. Innen stößt man aber auf kein Labyrinth, sondern findet sich in einem nach oben offenen Zelt wieder, durch das Licht und Regen fallen. Der lichte Kult der Gegenwart ist hier auf seine archaische Basis zurückgeführt: auf eine nomadische Heimatlosigkeit, deren Obdach dem Ansturm der Elemente nur auf Zeit abgerungen ist. Eine Stiftshütte in postpostmodernen Zeiten – Demut, die not täte.


DVD-Tipp

„Spirituelle Räume“. Deutschland 2011. Regie: Werner Köhne. 104 Min. Anbieter: absolut MEDIEN. Die DVD vereint vier jeweils 26-minütige Fernsehfeatures, in denen je zwei sakrale Bauten vorgestellt werden, die in letzten zwei Jahrzehnten erbaut wurden: die Jubiläumskirche in Rom (Architekt: Richard Meier), die Neue Synagoge in Dresden (Wandel, Hoefer und Lorch), die Herz-Jesu-Kirche in München (Amandus Sattler), den Christus-Pavillon der Expo in Hannover, der heute in Volkenroda steht (Meinhard von Gerkan), die Bruder-Klaus-Kapelle in Mechernich (Peter Zumthor), das Haus der Stille in Meschede (Peter Kulka), die Christus-Hoffnung-der-Welt-Kirche in Wien (Heinz Tesar) und die Neue Synagoge in Mainz (Manuel Herz). Alle Bauwerke werden filmisch erschlossen, zumeist von außen nach innen, mit ruhigen Travellings, die kreativ die stilistische Eigenart und Atmosphäre der Bauwerke aufgreifen. Ein Off-Kommentar trägt, ergänzt durch Interviews mit den Architekten, architektonisches Wissen zusammen und verbindet die eindrucksvolle Architekturfotografie mit klugen Interpretationen und architekturgeschichtlich-philosophisch-theologischem Wissen. Am meisten berühren die Kurzfilme durch die auratische Qualität ihrer Gegenstände, in denen moderne architektonische Formen und der „Geist“ der Gotteshäuser zu meditativ-sinnlichen Erfahrungsräumen verschmelzen.


Lesetipp

Wo Himmel und Erde sich berühren. Der Dreischritt filmischer Transzendenz

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