© MDR/SWR/Knut Muhsik ("Ernstfall - Regieren am Limit")

Der Krieg, die Regierung & die Medien: Stephan Lamby & „Ernstfall“

Leders Journal (XXI): Die Fernsehreportage „Ernstfall – Regieren am Limit“ von Stephan Lamby will die ersten 18 Monate der Bundesregierung nachzeichnen

Veröffentlicht am
06. Oktober 2023
Diskussion

Wie erklärt man Politik? Der Fernsehdokumentarist Stephan Lamby wählt für seine Reportage „Ernstfall – Regieren am Limit“ über die ersten 18 Monate der Regierungskoalition in Berlin die Atemlosigkeit als Stilmittel, um den Ernst der Lage, den Druck, aber auch die Zwänge der Medien deutlich zu machen. Das deckt durchaus Wirklichkeiten auf, grenzt mitunter aber auch hart an politischen Kitsch.


Der Film „Ernstfall – Regieren am Limit“ von Stephan Lamby, den „Das Erste“ am 11. September 2023 ausgestrahlte, existiert noch in einer zweiten Fassung, die in der ARD-Mediathek zu sehen ist. Während die Fernseh-Fassung nur 74 Minuten dauert, erstreckt sich die sogenannte „DokuSerie“ in der Mediathek auf eine Gesamtlänge von etwa 95 Minuten. Sie ist also um einige Minuten länger als der Einzelfilm, was allerdings nicht unbedingt mehr Inhalt bedeutet, denn die Vor- und Abspänne wiederholen sich und die Überleitungen am Ende und zu Beginn jeder Folge bieten nichts Neues. Wenn man böse sein will: eine Pflichtübung, mehr nicht. Auf die Erstausstrahlung des Films folgte im Fernsehen die Talkshow „Hart aber fair“, die sich mehrfach auf den Film bezog und an der auch der Regisseur teilnahm.

In „Ernstfall“ geht es um die Politik der Koalition aus SPD, Grünen und FDP, die seit Dezember 2021 unter Kanzler Olaf Scholz die Bundesrepublik regiert. Die erste bedeutsame Szene datiert der Film mit dem Insert „18 Tage vor Kriegsbeginn“, stammt also von Anfang Februar 2022, als manche noch nicht glauben wollten, dass Russland tatsächlich die Ukraine militärisch angreifen würde. Die letzte Szene stammt vom 12. Juli 2023, als sich bei einem NATO-Gipfel die Unterstützer der Ukraine trafen, um weitere Waffenlieferungen für das angegriffene Land zu verabreden.


Eine Chronik der Ereignisse

Grob gesagt umfasst der Film also anderthalb Jahre, in denen sich die mit viel Schwung angetretene Koalition mit Themen befasst sah, an die sie in ihren Verhandlungen zu Beginn keinen Gedanken verschwendet hatte. Wie sie auf die schnell aus diesem Krieg anwachsenden und auch Deutschland treffenden Probleme reagierte, zeichnet der Film in einer Chronik der öffentlichen Ereignisse nach.

Werbeplakat für "Ernstfall - Regieren am Limit" (MDR/SWR)
Werbeplakat für "Ernstfall - Regieren am Limit" (© MDR/SWR)

Allerdings ist der Blick des Films auf die öffentlichen Ereignisse der Bundespolitik ein anderer als der in Nachrichtensendungen. Dort werden die Geschehnisse in einer Art Kurzfilm dargestellt, in dem auf eine Ansichtstotalen des jeweiligen Ortes mehrere Nahaufnahmen der Personen folgen, die sich erklären, unterbrochen von kurzen Zwischenschnitten, mit denen die Tonschnitte in den jeweiligen Statements kaschiert werden. Bei Lamby sieht man nun, wie es zu solchen Medien-Szenen kommt und was auf sie folgt.

Das ist in der Regel nichts Weltbewegendes oder etwas, was dem widersprechen würde, was in den Nachrichtensendungen vermittelt wird. Aber es zeigt, dass dem jeweiligen Ereignis handfeste Arbeit vorausgeht und auch folgt.

Nicht nur auf der Seite der Politik, sondern auch auf der Seite der Medien. So viele Journalistinnen und Journalisten sah man selten in einem Fernsehfilm über den Berliner Politikbetrieb; unter ihnen viele, die noch nie in einer der Talkshows zu Gast waren. Ihre Statements treten an die Stelle eines Kommentars, mit dem sich der Regisseur selbst zu Wort gemeldet hätte. Stephan Lamby verzichtet auf jede eigene Stellungnahme. Dennoch ist er in dem Film präsent. Denn in den vielen Gesprächen, die er mit Olaf Scholz, Robert Habeck, Annalena Baerbock und Christian Lindner führte, ist er immer mal wieder im Bild zu sehen. Lamby wird, das ist hier zu spüren, von seinen Gesprächspartnern aus der Regierung respektiert. Vielleicht lassen sie sich auch deshalb auf Fragen ein, die auf etwaige Fehler, auf Kontroversen untereinander oder gar Zwistigkeiten in der Koalition abzielen.

Lambys Fragen entspringen nur im Ausnahmefall jener Routine, mit der ansonsten der Politikbetrieb in den Fernsehsendern begleitet wird. Schade ist, dass er den Kanzler dann doch nach dem Begriff „Scholzomat“ befragt oder Baerbock, Habeck und Lindner die Frage stellt, ob sie sich vorstellen könnten, selbst einmal Kanzlerin oder Kanzler zu sein. Hier unterläuft Lamby das Reflexionsniveau seines Films deutlich.


Inneres Zwiegespräch

In den besten Momenten entsteht dank der cleveren Montage von Silke Olthoff ein imaginäres Zwiegespräch zwischen den Politikern, etwa wenn sie Unterschiedliches zu jeweils identisch gestellten Fragen von sich geben. Keiner von ihnen verrät dabei unbedingt Neues, aber es zeigen sich Widersprüche gerade in jenen Darstellungen von Kontroversen und Krisen, auf die sie sich zuvor mühsam geeinigt haben werden. So betont Lindner beispielsweise, dass ein Arbeitspapier, das die „Bild“-Zeitung unter der Überschrift „Habeck will Öl- und Gasheizungen ab 2024 verbieten“ ausschlachtete, nicht aus dem Kreis seiner Partei, also der FDP, stamme. Habeck, damit von Lamby konfrontiert, erklärt, dass Lindner dies auch ihm so gesagt habe. Statt nun zu erklären, dass er Lindner glaube, fügt er lapidar an, dass er immer noch nicht wisse, woher das Papier gekommen sei.

In solchen Widersprüchen deutet sich weniger eine andere Vorstellung von Politik an als vielmehr eine andere Strategie der Selbstdarstellung. Lindner bleibt im Film stets einer, der sich selbst, den Sitz seiner Krawatte und sein Abbild für die Medien kontrolliert. Habeck hingegen inszeniert sich als Gegentypus, der deutlich mehr Emotionen zulässt, ironisch sein kann und gerne hemdsärmelig daherkommt. Einmal sieht man ihn, wie er mit Koffer und Tasche durch den Flughafen hastet, um seinen Flug noch zu erreichen. Eine solche Szene wäre mit Lindner kaum vorstellbar.

Robert Habeck unterwegs im Flughafen (MDR/SWR/Knut Muhsik)
Robert Habeck unterwegs im Flughafen (© MDR/SWR/Knut Muhsik)

Olaf Scholz wiederum ist oft mit der alten Aktentasche zu sehen, die er seit vielen Jahren zu wichtigen politischen Terminen mitschleppt. Man könnte sie als Zeichen der nach außen demonstrierten Erfahrung des Politikers Scholz deuten, der nun als Bundeskanzler amtiert. Annalena Baerbock wiederum kontrolliert von allen am stärksten ihre Auftritte. Sie ist sich immer der Anwesenheit der Kameras bewusst, weiß, wann für diese ein Lächeln angebracht ist und wann ein Ausdruck von Nachdenklichkeit oder Betroffenheit. Nur einmal merkt sie, dass sie gerade eine etwas unvorteilhafte Sitzposition einnimmt, die sie rasch korrigiert. Dieser kurze Augenblick verdeutlicht aber erst die Selbstdarstellung der Außenministerin.


Der Mischtypus im Kanzleramt

Diese bei allen vier Spitzenpolitikern spürbar werdende Inszenierung ihrer selbst als eines bestimmten Typus von Politik unterläuft im Film jemand, der normalerweise in der politischen Berichterstattung kaum beachtet wird: Wolfgang Schmidt, Chef des Bundeskanzleramtes. Man könnte ihn als Mischtypus bezeichnen, denn er ist so hemdsärmelig wie Habeck und so abgeklärt wie Scholz; wie Lindner achtet er auf Genauigkeit in der Wortwahl und gibt sich mitunter so emotional wie Baerbock.

Schmidt, der ansonsten im Hintergrund agiert, gefällt spürbar die Neugier, die Lamby für ihn zeigt, ohne gleich aus der ihm auferlegten Rolle des Manns im Hintergrund zu fallen. Ihm gelingen die besten Charakterisierungen der Krisenmomente, welche die Koalition in den 18 Monaten durchzustehen hatte. Er hat auch das letzte Wort des Films, wenn er im Juli 2023 erklärt, dass die derzeitige politische Lage angesichts des Kriegs in der Ukraine nur eine „dünne Schicht von Eskalation und Katastrophe“ trenne.

In den Begegnungen mit Schmidt blitzt auf, was der Film von Lamby hätte sein können. Kein Werk, das nochmal alles das rekapituliert, was sich Bedeutsames in den 18 Monaten um Scholz, Habeck, Baerbock und Lindner ereignet hat, sondern das sich darum kümmert, wie sich all das auf einer anderen Ebene – etwa der des Kanzleramtsminister Schmidt – spiegelte.

Der Film wie die „DokuSerie“ leiden an dem, was Lindner als „Atemlosigkeit“ der Politik in den zurückliegenden Monaten beschreibt. Der Film hastet gleichsam den politischen Akteuren hinterher, die ihrerseits von den Ereignissen getrieben sind. Darin unterscheidet er sich um nichts von den anderen Journalistinnen und Journalisten, ob sie nun für Tages- und Wochenzeitungen, für Agenturen, Fernsehsender oder Internetportale arbeiten.

Und so entsprechen die Veränderungen auf den politischen Feldern durchaus denen der Massenmedien. Baerbock begegnet im Film zweimal ausländischen Politikern, die wie der chinesische Außenminister plötzlich ihr Amt verlieren oder wie der demokratisch gewählte Präsident des Niger vom Militär weggeputscht werden. Dem entspricht, dass die im Film zitierte Sendung „Viertel nach Acht“ von Bild TV, die das Papier aus dem Wirtschaftsministerium zum Skandal aufbauschte, mangels Nachfrage mittlerweile eingestellt wurde.


Hart am politischen Kitsch

Sinnbild der Atemlosigkeit des politischen Betriebs sind im Film die vielen Gänge, auf denen der Kanzler und seine Minister durch ihre Bürogebäude hasten oder die Treppe von Flugzeugen hochsteigen, wobei ihnen eine Steadycam-Kamera folgt. Die Atemlosigkeit des Films erweist sich auch in der Überfülle der Daten, die er mit einer Off-Tonmontage aus Nachrichtenfragmenten und durch eine Reihe von Zwischentiteln zu erfassen versucht. So kommt nie jemand zur Ruhe, um das Erlebte oder Gesehene zu rekapitulieren – weder die Politiker noch der Film und dessen Zuschauer.

„Ernstfall“ wurde unter dem Reihentitel „ARD Dokumentarfilm“ angekündigt, was ein wenig überrascht. Denn wenn man den Begriff „Dokumentarfilm“ im engeren Sinne als ein durch Methode, Stil und Handschrift definiertes Projekt versteht, bleiben große Zweifel, ob Lambys Film so benannt werden kann. Dabei geht es nicht um eine akademische Unterscheidung, sondern um die Frage des Anspruchs. In seinen besten Momenten – etwa bei seinen Gesprächen und in den Randbeobachtungen des politischen Betriebs – verhält sich Lamby wie ein klassischer Dokumentarist. In den schwächeren Passagen, in denen er alles und jedes erfassen und zugleich einordnen will, unterscheidet er sich um nichts von all den Medienleuten, die im „Bericht aus Berlin“ oder in „Berlin direkt“ von der Arbeit der Koalition berichtet haben. Schlimmer noch: Lamby schneidet mehrfach Aufnahmen ein, die Scholz, Habeck, Baerbock und Lindner zeigen, wie sie aus den Fenstern schauen, als sinnierten sie über den Lauf der Welt. Das ist politischer Kitsch.

Annelena Baerbock im Regierungsflieger (MDR/SWR/Knut Muhsik)
Annelena Baerbock im Regierungsflieger (© MDR/SWR/Knut Muhsik)

Aber erst diese mannigfache Abkehr von dem, was man dokumentarische Prinzipien nennen könnte, hat dem Film den besten Sendeplatz im Ersten Programm gesichert und jede Menge Aufmerksamkeit eingetragen. Davon soll dann auch das Buch profitieren, das Lamby unter dem gleichlautenden Titel kurz vor der Ausstrahlung des Films auf den Markt brachte und das er in „Hart aber fair“ bewarb. Dort steuerte er eine Erkenntnis bei, die in „Ernstfall“ einen Platz verdient hätte. Nach Lambys Ansicht würde Kanzler Olaf Scholz eine Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine auch deshalb nicht befürworten, weil er deren Staatsführung angesichts des Anschlags auf die Gaspipeline in der Ostsee nicht traue. Wolfgang Schmidt hatte im Film bemerkt, dass viele Spuren derjenigen, die vermutlich die Rohre gesprengt haben, in die Ukraine weisen.


Kommentar verfassen

Kommentieren