© imago/Eventpress (Cillian Murphy bei der Berlinale-Eröffnung)

Berlinale-Eröffnung: Schaut hin!

Die 74. Berlinale 2024 hat mit politischen Bekräftigungen und dem irisch-belgischen Drama „Small Things Like These“ begonnen

Veröffentlicht am
19. März 2024
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Nach den Querelen um die Ein- und Wiederausladungen von AfD-Mitgliedern war die Eröffnungsgala der Berlinale einmal mehr politisch aufgeladen. Neben dem Kampf gegen rechts und der Solidarität mit Opfern von Krieg und Widerstand beschwor der Auftakt des 74. Festivals aber auch die Bedeutung der Filmkunst, um Aufmerksamkeit auf drängende Fragen zu lenken. Wozu auch der Eröffnungsfilm „Small Things Like These“ bestens passte, der vom individuellen Einsatz gegen ein Unrechtssystem im Irland der 1980er-Jahre handelt.



Die Augen abzuwenden, ist in bestimmten Situationen keine Option. Das gilt in besonderem Maße fürs Kino, wo die Weigerung, unschöne Aspekte auf der Leinwand in den Blick zu nehmen, einem Scheitern der Seherfahrung gleichkäme. Das gilt aber auch für brennende aktuelle Fragen, von denen sich derzeit besonders viele anhäufen. Wegschauen kommt für die 74. Berlinale schon allein deshalb nicht in Frage, weil sich an der Einladung von fünf AfD-Mitgliedern zur Eröffnungsgala so viel Kritik entzündet hatte, dass die Berlinale-Leitung die fünf ausdrücklich wieder auslud. Im Kontext der aktuellen Bürgerbewegung gegen rechts darf man an der politischen Tragweite dieser Geste durchaus zweifeln, doch sie war eine Steilvorlage für eine erneut stark politische Prägung der Eröffnungsgala.

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Pheline Roggan und Papis Loveday bei der Eröffnung (© imago/Future Image)

So sah sich Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek zu einer ausführlichen Erklärung genötigt, dass das Festival ein Ort für intensiven Dialog, aber keineswegs für Hass sei. Ähnlich äußerten sich auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner, die es nicht bei den Gefahren für die Demokratie durch rechte Parteien und Wähler beließen. Auch die Kriege gegen die Ukraine und Israel, die Unterdrückung der Bevölkerung im Iran und einiges mehr wurden als bedrückendes Hintergrundrauschen ausgemalt.


Eine Frage der Moral

Immerhin geriet die Eröffnungsfeier nicht in eine ähnliche Schieflage wie die Pressekonferenz wenige Stunden zuvor. Dort waren die Mitglieder der internationalen Jury penetrant zu politischen Statements gedrängt worden; das Desinteresse an ihren Künstler-Persönlichkeiten lag am Rande der Peinlichkeit. Am Abend jedoch wurde bei allen politischen Stellungnahmen auch die Filmkunst nicht vergessen. Mit „Wir dürfen nicht wegschauen, die Filmemacher tun es auch nicht“, leitete Kai Wegner halbwegs elegant zum Ausblick auf das Berlinale-Programm über. Das schon allein mit den Titeln und Bildern der Wettbewerbsfilme zum Ende der kurzen Ära Chatrian/Rissenbeek noch einmal große Erwartungen auf Kino-Offenbarungen schürte.

In diese Kategorie fällt der Eröffnungsfilm der 74. Berlinale zwar nicht unbedingt, aber ein qualitätsvoller Auftakt ist „Small Things Like These“ dennoch. Obendrein passte es optimal zum Geist der Gala, da es darin explizit zu einer Frage der Moral wird, eben nicht weg-, sondern hinzusehen. Das Drama von Tim Mielants spielt in einer irischen Kleinstadt in den 1980er-Jahren, in der die bieder-genügsamen Bürger Missverhältnisse beschweigen und damit letztlich tolerieren. Das betrifft die Armut, die nachts schon mal einen kärglich bekleideten Jungen dazu treibt, eine für Katzen bereitgestellte Milchschale leerzutrinken, oder Alkoholiker, die insgeheim verachtet, aber als unbelehrbar hingenommen werden.

Vor allem aber werden in dem Ort systematisch Mädchen und junge Frauen misshandelt: Im lokalen Kloster gibt es eine der berüchtigten Magdalenen-Wäschereien. Dass die Insassinnen dort eingesperrt, zu harter Arbeit gezwungen und bei Widerstand brutal bestraft werden, ist den Städtern ebenso bekannt wie gleichgültig – schließlich sind die Eingesperrten unverheiratet schwanger geworden oder einer prüden Gesellschaft in anderer Weise als „lasterhaft“ aufgestoßen. Wer im Leben vorwärtskommen will, müsse gewisse Dinge eben ignorieren, sagt es Eileen Furlong, die Mutter von fünf Mädchen und die Frau des Kohlenhändlers Bill, einmal nachdrücklich.


Ein stiller Beobachter

Für Bill Furlong stellt sich die Gewissensfrage allerdings spätestens dann, als er bei einer vorweihnachtlichen Lieferung im Kohleschuppen des Klosters auf ein verstörtes, durchgefrorenes Mädchen stößt und von der Oberin mit einer Mischung aus Beschwichtigung, versteckten Drohungen und offener Bestechung abgespeist wird. Doch Bill ist kein Mann für Affekthandlungen oder verbalen Widerstand. Wie schon „The Quiet Girl“ von Colm Bairéad geht auch „Small Things Like These“ auf eine Romanvorlage der irischen Autorin Claire Keegan zurück; auch bei den Hauptfiguren finden sich manche Gemeinsamkeiten. Dem vernachlässigten, stillen Mädchen in „The Quiet Girl“ entspricht bei Mielants ein stiller Mann. Cillian Murphy spielt Bill Furlong hochkonzentriert als einen Beobachter, der zwar oft den Kopf senkt oder mit Blicken ausweicht, dem aber keineswegs entgeht, was geschieht. Die Kamera von Frank Van den Eeden greift das gespaltene Verhalten der Gesellschaft in der Bildsprache effektvoll auf, die um den Protagonisten herum viele Unschärfen setzt und mit ausweichenden Kameraschwenks die Ablenkungsmanöver der anderen Figuren unterstreicht.

Die Internationale Berlinale-Jury 2024 ()
Die Internationale Berlinale-Jury 2024 (v.l.): Brady Corbet, Jasmine Trinca, Christian Petzold, Lupita Nyongo, Albert Serra, Ann Hui, Oksana Zabuzhko (© imago/Dave Bedrosian)

In den Bildern eines trüben irischen Winters und dumpf beleuchteter Wohnstuben betont „Small Things Like These“ vielleicht etwas überdeutlich den Kontrast zwischen der fehlenden Empathie der meisten Stadtbewohner und der zeitlichen Verortung an Weihnachten. Bill Furlong scheint der Einzige zu sein, dem die Heuchelei zwischen der Botschaft von der Güte und der realen Tatenlosigkeit gegen den Strich geht. Generell ist Bill jemand, der sich sorgt und kümmert. Seine Arbeiter essen auf seine Kosten, einen verwahrlosten Jungen, den er auf der Straße trifft, fragt er eindringlich, ob alles in Ordnung sei, und steckt ihm noch eine Handvoll Geld zu. Für dieses Verhalten erntet er regelmäßig Kopfschütteln, sogar von seiner Frau. Seine Außenseiter-Rolle betont der Film auch visuell, indem er dem Hauptdarsteller mit der Kamera oft äußerst naherückt. Redliche Absichten und das Unwohlsein angesichts der Reaktionen seiner Umwelt werden so gleichermaßen sichtbar.


Einer allein unter vielen

„Small Things Like These“ gelingt es an vielen Stellen, die pointierte, aber auch sehr sparsame Prosa von Claire Keegan kongenial in eindrückliche Bilder zu übersetzen. Eher vordergründig sind hingegen die Szenen im Kloster geraten, die sehr auf eine unheimlich-raunende Atmosphäre aus sind und mit biestigen Nonnen und zu Tode verschreckten Mädchen Horrorfilm-Flair verbreiten. Das Angebot zum Tee durch die von Emily Watson unbeweglich und eiskalte gespielte Oberin lässt durchaus an eine Einladung von Hannibal Lecter denken. Subtiler sich dagegen die Rückblicke in Furlongs Kindheit gestaltet, die sein persönliches Schicksal mit dem Handlungsstrang um die Magdalenen-Wäschereien verbinden, ohne allzu plumpe Verknüpfungen zu wählen.

Wo frühere filmische und serielle Annäherungen an die erst in den 1990er-Jahren endgültig geschlossenen Ausbeuterstätten aus der Opferperspektive erzählt sind, stellt Mielants’ Romanadaption sich ihnen mit einem eigenen Zugang schlüssig an die Seite. Auch hier werden die Taten von Staat und Kirche verurteilt, die irische Gesellschaft daneben aber nicht aus ihrer Mitverantwortung entlassen. Denn dass Bill Furlong in seinem moralischen Dilemma allein dasteht, ist die größte Schande dieser speziellen Geschichte. In diesem Fall ist Wegschauen nicht nur keine Option, es ist ein Verbrechen.



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