Die Schlacht um Chile: Der Kampf eines unbewaffneten Volkes

Dokumentarfilm | Chile/Kuba 1975-78 | 273 (100, 90, 83) Minuten

Regie: Patricio Guzmán

Dreiteiliger Dokumentarfilm über das letzte Regierungsjahr der Unidad Popular unter Salvador Allende in Chile 1973 (1. "Der Aufstand der Bourgeoisie"/"La Insurreccion de la Burguesia"; 2. "Der Staatsstreich"/"El Golpe de Estrado"; 3. "Die Volksmacht"/"El Poder popular"). Zunächst werden jene Aktionen beschrieben, die von März bis Juni 1973 zum Sturz der chilenischen Regierung unternommen wurden. Dann wird (von Juni bis Oktober) die Phase dokumentiert, in der der Klassenkampf seine schärfste Form annahm. Schließlich konzentriert sich der Film auf Beispiele für die organisatorischen Fähigkeiten des chilenischen Volkes während der Monate Januar bis September. Eine engagierte und präzise Bestandsaufnahme der Ereignisse; ernsthaft und anschaulich werden die Umstände dargelegt, die Chile in eine Diktatur steuern ließen. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
LA BATALLA DE CHILE: LA LUCHA DE UN PUEBLO SIN ARMAS | LA INSURRECION DE LA BURGUESIA (1975) | EL GOLPE DEL ESTADO (1976)
Produktionsland
Chile/Kuba
Produktionsjahr
1975-78
Produktionsfirma
Equipo Tercer Ano/ICAIC/Chris Marker
Regie
Patricio Guzmán
Buch
Patricio Guzmán
Kamera
Jorge Müller Silva
Schnitt
Patricio Guzmán · Pedro Chaskel
Länge
273 (100, 90, 83) Minuten
Kinostart
20.07.2023
Fsk
ab 12
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm

Diskussion

Der Film beginnt mit dem Ende. Es ist das Ende der Regierung von Salvador Allende und damit das (vorläufige) Ende der Demokratie von Chile. Bomben schlagen in den Präsidentenpalast La Moneda ein. Flammen wuchern im Inneren und Rauch steigt aus den Fenstern auf. Die ersten Bilder des epochalen dreiteiligen Dokumentarfilms „Der Kampf um Chile“ von Patricio Guzmán zeigen unmittelbar die Wunde des nationalen Traumas: den Staatsstreich am 11. September 1973, der sich im September 2023 zum fünfzigsten Mal jährt. Aus diesem Anlass stellt der Sender Arte den filmischen Meilenstein in seine Mediathek.

Wer Guzmáns spätere Filme aus den 2010er-Jahren wie „Nostalgie des Lichts“, „Der Perlmuttknopf“ oder „Die Kordillere der Träume“ kennt, dürfte von der Machart des Frühwerks überrascht sein. Darin zeigt er weniger poetische Bilder, sondern stürzt sich mit der Handkamera direkt in das tagespolitische Geschehen Anfang der 1970er-Jahre. Die rauen schwarz-weißen Bilder und die wilden Kameraschwenks zeugen von der Aufbruchsstimmung von Direct Cinema und Cinéma vérité. Guzmán und sein Filmteam sind überall hingegangen, wo sich die chilenische Gesellschaft politisch formiert hat – also auf die Straßen, in Fabriken und Minen, in Kongress- und Gerichtssäle. Egal ob es sich um friedliche Demonstrationen oder lebensgefährliche Straßenschlachten handelt, die Kamera versucht alles einzufangen, was vor der Linse passiert.

Von größter Bedeutung für die chilenische Erinnerungskultur

Ungewöhnlich für das Direct Cinema greift Guzmán auf einen Voice-Over-Erzähler zurück und interviewt die Leute. Er geht also über das reine Beobachten hinaus. So hat „Der Kampf um Chile“ eine journalistische Form, wie sie heute geläufig ist. Doch Guzmán findet in der Montage einen eigenen Aufbau. Und allein der Verdienst der Zeugenschaft, welche von der Militärdiktatur ansonsten ausgelöscht worden wäre, ist für die chilenische Erinnerungskultur nicht zu unterschätzen. Während die drei Filme in den 1970er-Jahren schon in den USA und in Europa erfolgreich waren, wurden sie erst Ende der 1990er-Jahre in Chile gezeigt. Das Werk zu Ende geschnitten hatte Patricio Guzmán mit José Bartolomé, Federico Elton und Pedro Chaskel im Exil in Kuba. Der Kameramann Jorge Müller und seine Frau Carmen Bueno, die Teil einer linken Gruppierung waren, wurden von der Polizei entführt und gefoltert und gelten bis heute als verschwunden. Guzmán widmet Müller den Film, ohne den es die Bilder nicht geben würde.

Zunächst folgen die Ereignisse chronologisch aufeinander: der Wahlsieg der Unidad Popular von Salvador Allende, das Hindern der konservativen Opposition am Durchsetzen der Wahlversprechen, der Streik der Transportunternehmen, die Wirtschaftsblockade der USA, die Demonstrationen und die Ausschreitungen. In den Interviews zeigt sich eine sehr stark polarisierte Bevölkerung. Die ungleiche Verteilung von Eigentum sowie Allendes Versuch der Verstaatlichung von Banken, Fabriken, Minen, Gesundheitswesen und Lebensmittelverteilung provoziert Teile der Bevölkerung. Einkommensschwache Menschen feiern den Präsidenten dafür, während das Großbürgertum und die Großunternehmer um ihren Anteil fürchten. Der Film macht damit klar, wie die Spaltung der Gesellschaft den Staat destabilisiert und letztlich den Weg für die Militärjunta bereitet hat.

Die Öffentlichkeit radikalisiert und polarisiert sich

All das schildert der erste Teil „Der Aufstand der Bourgeoisie“. Die Vorgeschichte mündet im titelgebenden „Staatsstreich“ des zweiten Teils. Bereits im Juni 1973 geschah ein Putschversuch, der jedoch von regierungsnahen Truppen abgewendet werden konnte. Allende fordert daraufhin, den Notstand auszurufen, doch die Opposition widersetzt sich. Die Öffentlichkeit polarisiert und radikalisiert sich noch mehr. Demos und Streiks bringen das Land zum Erliegen. Doch es gibt immer wieder Versuche, Kompromisse zu finden. Auf Druck der Kirche beginnen die Christdemokraten mit Allende zu verhandeln, und auch in der Wirtschaft kommt man mit Teilprivatisierung den Unternehmern entgegen. Allende nimmt sogar Militärchefs in seine Regierung auf – nicht zuletzt aus Angst vor einem weiteren Putsch. Doch genau der geschieht, als die Wirtschaftskrise anhält. Marine, Luftwaffe und Panzer wenden sich gegen die Regierung. In einer Fernsehansprache rechtfertigen Pinochet und das Militär die Machtübernahme damit, Ordnung im Land wiederherzustellen.

In den ersten beiden Teilen wird außerdem deutlich, wie groß der Einfluss der USA war. Die US-Regierung, vor allem die CIA, finanzierte die Streiks, provozierte Lieferengpässe und bildete Todesschwadronen aus.

Optimismus blitzt durch

Der letzte Teil „Die Macht des Volkes“ dagegen zeigt, dass die Chilenen trotz oder gerade wegen des politischen Chaos versucht haben, sich selbst zu organisieren. Die Gewerkschaften schließen sich zusammen und kooperieren mit anderen Fabriken. LKWs aus anderen Bereichen werden zu Bussen umfunktioniert. Ein bitterer Beigeschmack ist im dritten Teil trotzdem zu spüren, wenn Arbeiter begeistert von ihrer Arbeit erzählen oder wenn ein Gewerkschaftsführer lautstark und minutenlang in marxistische Tiraden verfällt. Egal ob diese Szenen der (Selbst-)Inszenierung auf den Einfluss des Produktionspartners Kuba oder Guzmáns persönliche Überzeugung zurückgehen, der Abschluss des Monumentalwerks versucht optimistisch zu sein. Aus dem Exil blickt Guzmán mit Zuversicht auf sein Land.

Zwei Momente seien zum Schluss erwähnt, die sicherlich im Filmgedächtnis bleiben werden. Zu einem sieht man am Ende des ersten Teils die Aufnahmen des argentinisch-schwedischen Kameramanns Leonardo Henrichsen. Er filmt die Straßenschlachten und das Eingreifen des Militärs. Ein Soldat zielt dabei direkt auf die Kamera – also auf Henrichsen – und erschießt ihn. Das Bild kippt Richtung Himmel. Im Gegensatz zu dieser brutalen Szene steht eine lange Kamerafahrt im dritten Teil. Darin läuft ein Junge mit einem schwer beladenen Lastenwagen eine Straße entlang. Die Kamera fährt mit. Die Räder drehen sich immer weiter. Die Schritte des Jungen sind dabei federleicht, beinah schwebend. Eine Panflöte spielt im Off. Es ist ein Bild, das die Leichtigkeit des Lebens feiert. Trotz der Last läuft Chile immer weiter.

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