Ein Tag im Mai

- | Dänemark 1994/95 | 96 Minuten

Regie: Anders Rønnow-Klarlund

An einem einzigen Tag, dem 18. Mai 1993, als Dänemark über seinen Beitritt zur EU abstimmte, spielt die Handlung dreier Episoden, die zunächst nichts miteinander zu tun haben, aber auf Grund der Auseinandersetzungen um den Beitritt aufeinanderstoßen: eine Sängerin, die ihre Tochter vernachlässigt, ein Gewalttäter, der aus einer Anstalt ausbricht, um seine Geliebte zu treffen, ein Papierverkäufer, dessen Ehrgeiz ihn um Kopf und Kragen bringt. Farblich unterschiedlich gestaltet, verbindet die Episoden der geschickte Einsatz der Handkamera und die atemlose Dichte der Inszenierung. Eine beeindruckende Parabel über die Gemütsverfassung in einer Zeit des politischen Umbruchs, dem sich auch diejenigen nicht entziehen können, die ihn ignorieren. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DEN ATTENDE
Produktionsland
Dänemark
Produktionsjahr
1994/95
Produktionsfirma
Klondike Film/Danske Filminstitut
Regie
Anders Rønnow-Klarlund
Buch
Anders Rønnow-Klarlund
Kamera
Eigil Bryld
Musik
Sanne Graulund · Martin Klarlund
Schnitt
Steen Shapiro
Darsteller
Sanne Graulund (Ulla) · Niels Anders Thorn (Michael) · Rasmus Botoft (Jens) · Rebecca Sørensen (Stumme Zeugin) · Ole Ernst (Dommer)
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
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Diskussion
Ein Tag im Mai - der Titel klingt so unverbindlich-lakonisch wie der eines Rohmer-Films. Tatsächlich aber hat jener 18. Mai 1993 in Dänemark die Gemüter erhitzt wie; kaum ein anderer Tag der jüngsten Geschichte. Per Plebiszit entschieden die Dänen damals erneut über den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft, nachdem sie ihn im Vorjahr abgelehnt hatten. In den Wochen davor und noch am Wahltag geschah etwas, das in Deutschland undenkbar wäre, da der EU-Beitritt hier als selbstverständlicher Konsens angesehen wird: Die Frage spaltete die dänische Nation in erbitterte Gegner und Befürworter. An diesem einen Tag spielt die Handlung des Films. Drei Episoden, die zunächst scheinbar nicht das Geringste miteinander zu tun haben, streben entscheidenden gemeinsamen Berührungspunkten zu; und jedes der drei Schicksale, von denen sie erzählen, hängt auf einmal existentiell von dem Streit um den EU-Beitritt Dänemarks ab. Dennoch ist der Film an keiner Stelle ein plakatives politisches Lehrstück, das womöglich für eine Seite Partei ergreift, sondern im Gegenteil eine ebenso dramatische wie sinnliche Auseinandersetzung mit einer vollkommen aus der Mode gekommenen Frage: Ob und inwiefern das Leben des einzelnen mit den Vorgaben der Politik zusammenhängt. Und siehe da, es zeigt sich, daß mitunter gerade diejenigen von den Auswirkungen politischen Handelns betroffen sind, die diese Zusammenhänge hartnäckig ignorieren.

Ein Vater kriecht zu seiner achtjährigen Tochter unters Bett: Wieder kommt die Mutter zu spät, sogar zum Geburtstag ihres Kindes. Schließlich steht sie derzeit am Absprung zu einer großen Karriere als Popsängerin. So sehr ihr die Tochter am Herzen liegt, fügt sie sich doch in die Terminvorgabe des Radiosenders. In strahlendem, fast grellem Licht und bunten Farben wird diese Episode erzählt - ein Idyll, das zu scheitern droht, gekennzeichnet vor allem von dem enttäuschten Gesicht des Kindes. Eine Nervenheilanstalt, in Schwarz-Weiß mit kaltem Blaustich: Verzweifelt versucht einer der Patienten, seine Geliebte davon abzuhalten, ihn zu verlassen, er sei schließlich gesund. Um die Beziehung zu retten, bricht er aus, unter Anwendung von Raffinesse und Gewalt. Er stiehlt vor den Augen des freudentaumelnden Publikums einer Wahlveranstaltung den Wagen eines der Wahlkämpfer. Das Leben der Sängerin wird er damit einschneidend verändern. Die dritte Episode um einen Papierverkäufer wirkt zunächst vergleichsweise unentschlossen: zwischen den kalten Farben des Firmen-Innern und den warmen eines italienischen Restaurants, wo ein entscheidendes Geschäftsessen stattfinden soll - unentschlossen, so wie der Verkäufer selbst durch einen unglücklichen Zufall sowohl für Ja als auch für Nein gestimmt hat. Die als verkaufsfördernde Maßnahme gedachte Idee, zwei "Hostessen" hinzuzuziehen, erweist sich schließlich als Fehler, im Werben um Europa muß der Verkäufer eine herbe Schlappe hinnehmen.

Alle drei Episoden, die kunstvoll verwoben und zeitlich parallel erzählt werden, sind zu einem großen Teil mit einer beweglichen (Hand-)Kamera aufgenommen. Stilistisch betritt der erst 26jährige Spielfilmdebütant Anders Rønnow-Klarlund deutlich das Terrain seines Landsmannes Lars von Trier. Wie dieser will er die Unmittelbarkeit und Unreflektiertheit der erzählten Handlung abbilden. Die Figuren leben im Augenblick und hetzen unentwegt von einem Punkt zum nächsten, ohne sich über die Folgen ihres Tuns Gedanken zu machen. Sie leben für ein Ziel, das aus ihrer Sicht jeden Weg rechtfertigt. Begleitet wird ihr Handeln von einer atemlosen Ökonomie der Bilder, die nie eine zweite Option offenhält. Alles scheint in Aufruhr, Nervosität allerorten. Demonstranten und Polizisten liefern sich Straßenschlachten, in die schließlich auch die Protagonisten hineingezogen werden. Rønnow-Klarlund gelingt es, diese geladene Atmosphäre in dichten Bildern einzufangen, ohne einen Moment das Schicksal seiner Figuren aus den Augen zu lassen. Er macht die Zuschauer zu Zeugen weniger von zeitgeschichtlichen Ereignissen als vielmehr einer Gemütsverfassung, die symptomatisch für alle Bürger der vielbeschworenen Europäischen Gemeinschaft stehen müßte, würden sie sich der Folgen des politischen Umschwungs bewußt. Nicht nur das: Der junge Regisseur scheint hier in Form einer Parabel einen Vorgeschmack auf eine neue Epoche zu geben, die mehr denn je von wirtschaftlichem Fortschreiten bestimmt und beherrscht wird, von einem einzigen großen Gedanken also und nicht vom Gedanken an das Individuum. Wobei es letztlich wahrscheinlich zweitrangig sein wird, ob man nun EU-Vorreiter ist, eine Sonderstellung einnimmt oder sich gar nicht dazugehörig fühlt.
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