Der Schrei der Seide

- | Frankreich/Schweiz/Belgien 1996 | 110 Minuten

Regie: Yvon Marciano

Paris 1914: Ein Psychiater versucht, die Leidenschaft einer jungen Näherin zu ergründen, die bereits mehrfach wegen des Diebstahls von Seidenstoffen verhaftet wurde. So kommt er einer besonderen Form von Fetischismus auf die Spur und verliebt sich in seine Patientin, die seine Gefühle erwidert und zum ersten Mal ihre Sexualität nicht sublimieren muß. Eine faszinierende, in ruhigen und unspektakulären Bildern entwickelte Studie um die Erotik des Ver- und Enthüllens, getragen von zwei ausgezeichneten Darstellern. Gelegentliche Ausflüge ins Kunstgewerbe schmälern den positiven Gesamteindruck nur unwesentlich. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
LE CRI DE LA SOIE
Produktionsland
Frankreich/Schweiz/Belgien
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Mimosa/La Sept Cinéma/Scarebee/Ingrid/T & C/Télévision Suisse Romande/CMC
Regie
Yvon Marciano
Buch
Yvon Marciano · Jean-François Goyet
Kamera
William Lubtchansky
Musik
Alexandre Desplat
Schnitt
Catherine Quesemand
Darsteller
Marie Trintignant (Marie) · Sergio Castellitto (Gabriel de Vilemer) · Anémone (Cécile) · Alexandra London (Aude) · Adriana Asti (Gabriels Mutter)
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (1.85:1; DD2.0 dt.)
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Diskussion
Paris 1914. Die Näherin Marie Benjamin, die bereits mehrfach wegen Diebstahls inhaftiert war, wird in die psychiatrische Abteilung eines Gefängnisses überwiesen. Dort erregt die junge Frau das Interesse des Psychiaters Gabriel de Vilmer, dem ihre Geschichte ein überaus interessanter Fall zu sein scheint. Denn Marie hat - ohne ersichtlichen Grund - nie etwas anderes als Seidenstoffe gestohlen und wurde, so entnimmt Gabriel den Akten, meistens noch am Tatort verhaftet, wo sie, den Stoff fest an sich gepreßt, ohnmächtig zusammengebrochen war. Im Laufe der Untersuchungsgespräche gelingt es dem Arzt, das Vertrauen der zunächst völlig verstockten Patientin zu gewinnen. Marie berichtet von ihrer besonderen Beziehung zu seidigen Stoffen, die eine kaum verhüllte erotische Komponente zu haben scheint. Gabriel diagnostiziert zunächst eine Spielart des Fetischismus, muß jedoch bald einsehen, daß Seide für Marie nicht - wie sonst üblich - nur als Ersatz für eine zwischenmenschliche Liebesbeziehung fungiert. Vielmehr scheint sie sich nie nach irgendetwas anderem als nach diesem Material gesehnt zu haben. Der Arzt widmet dem Phänomen nicht nur sein nächstes Buch, sondern bringt seiner faszinierenden Patientin schon bald mehr als ein nur wissenschaftliches Interesse entgegen. Und auch Marie scheint für den charmanten Junggesellen bald Gefühle zu hegen, die sie bisher nur im Zusammenhang mit Seide kannte. Doch als Gabriel zum Militär einberufen und nach Afrika abkommandiert wird, werden die zarten Liebesbande jäh gekappt.

In Anbetracht der Tatsache, daß Yvon Marciano für sein Script zu "Der Schrei der Seide" bereits 1991 einen Drehbuchpreis einheimsen konnte, scheint die Realisation des Films - aus welchen Gründen auch immer - eine überaus komplizierte Angelegenheit gewesen zu sein. Dabei bietet die Geschichte um Liebe, Sinnlichkeit und Fetischismus, die nur hie und da an Patrick Süskinds Erfolgsroman "Das Parfüm" erinnert, doch einen (im wahrsten Sinne) wunderbaren Kinostoff - was sich der Film nicht zuletzt zunutze macht, wo er die in düsteres Grau/Blau gehaltene Gefängnistristesse mit dem Farbenrausch der Stoffe kontrastiert. Denn wo Marie im Gefängnis nur von Seide schwärmen kann, flaniert Gabriel in seiner Freizeit immer öfter durch die Pariser Kaufhäuser. Zunächst nur, um die Zwanghaftigkeit im Tun seiner Patientin zu ergründen, mehr und mehr jedoch, weil er selbst der von diesen Materialien ausgehenden Sinnlichkeit erliegt. Ein Wechselspiel der Verführung und ihrer fortwährenden Brechung durch ihren vermeintlichen, unvollkommenen "Ersatz", den Fetisch. Daß der Film diese Ambivalenz nicht aufhebt, die "Ersatzbefriedigung" nicht linear in die "wahre Liebe" münden läßt, gehört fraglos zu seinen Stärken. Ebenso der Umstand, daß es Yvon Marciano hier nicht um eine als Spielfilm verbrämte Studie zum Thema Fetischismus zu tun ist, sondern daß er auf psychologisierenden Erklärungmuster wohltuend verzichtet.

Vielmehr erzählt er in ruhigen, vordergründig unspektakulären Bildern, mehr mit Andeutungen als mit großen Gesten arbeitend, die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe. Ein faszinierendes Spiel um die Erotik des Ver- und Enthüllens, wobei die Beziehung zwischen Marie und Gabriel zwar ständig durch äußere Umstände behindert wird, aber dennoch etwas Monomanisches hat. So ist der Film trotz einiger Nebenfiguren letztlich ein Zwei-Personen-Stück. Und die beiden Hauptdarsteller Marie Trintignant und Sergio Castello bewältigen ihre "tragende" Funktion durchweg souverän. "Der Schrei der Seide" ist gewiß kein Film, dem man das Etikett "Kino-Event" anheften möchte, aber dennoch nicht minder sehenswert. Woran auch ein paar Längen nichts ändern. Ärgerlich sind hier allenfalls gelegentliche Ausflüge ins Kunstgewerbliche. Wenn es zwischen Marie und Gabriel schließlich doch noch zum veritablen Sex kommt, hätte das nun wirklich nicht auf einem Berg von Seidentüchern stattfinden müssen, in denen sich ihre Hände vergraben. Das mit der Erotik und der Seide hätte man auch so verstanden.
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