Drama | USA 1997 | 113 Minuten

Regie: Ang Lee

Eine private Geschichte als Gesellschaftsbild, die das Auseinanderfallen einer amerikanischen Mittelstandsfamilie in den 70er Jahren und deren Sehnsucht nach Liebe, Harmonie und Geborgenheit beschreibt. Erst der plötzliche Tod eines Kindes reißt die Erwachsenen aus ihrer Lethargie. Mit Hilfe dieses Schockmoments erhält der eindrucksvoll gespielte Film philosophische und religiöse Dimensionen: Ein unschuldiges Opfer öffnet gleichsam das Tor zu Einsicht und Buße. In seinem dramaturgischen Aufbau bündelt er viele Figurenfäden zu einem dichten, kunstvollen Geflecht, das sich fern von moralischen "Mätzchen" zu einem ebenso intelligenten wie humanistischen Werk verdichtet. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
THE ICE STORM
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Good Machine/Fox Searchlight Pictures
Regie
Ang Lee
Buch
James Schamus
Kamera
Frederick Elmes
Musik
Mychael Danna
Schnitt
Tim Squyres
Darsteller
Joan Allen (Elena Hood) · Kevin Kline (Ben Hood) · Christina Ricci (Wendy Hood) · Tobey Maguire (Paul Hood) · Sigourney Weaver (Janey Carver)
Länge
113 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Kinowelt (FF, DS engl./dt.)
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Diskussion
Die ersten Bilder verweisen auf das Ende der Geschichte: Es ist Nacht; ein Junge schläft in einem liegengebliebenen Vorortzug. Plötzlich beginnt das Eis an den Rädern und den elektrischen Oberleitungen zu brechen, die Bahn setzt sich in Bewegung. Als sie in die heimatliche Station einfährt, warten schon Mutter, Vater und Schwester auf den Sohn und Bruder, den sie in ihre Arme schließen. Für den Jungen ein ungewöhnlicher Vorgang, der eigentlich den Abstand zur Familie bekennt, wie aus seinem Off-Kommentar ersichtlich wird. Diese Ouvertüre mit ihren metaphorischen Motiven und philosphischen Sätzen verlangt nun nach einem erklärenden Hintergrund. Also blendet der Film zurück auf die Tage davor, skizziert das Innenleben der vier Hauptfiguren und entwirft zugleich ein Zeitbild der frühen 70er Jahre, einer Ära, derenpolitische Desaster heute noch traumatische Erinnerungen hervorrufen können: Vietnamkrieg, Watergate, die Lügen und Verstrickungen der politischen Elite in den USA, ja der angepaßten Bevölkerung überhaupt. Ang Lee liefert die "private" Ergänzung zum gesellschaftlichen Dilemma: die Irrwege einer Familie in Korrespondenz mit den Irrwegen einer Nation, die Risse in den familiären Zellen als Folge und Ursache der Krankheiten des gesamten gesellschaftlichen Organismus. Dabei ist "Der Eissturm" kein historischer Film; seine moralischen Fragen zielen durchaus auf die Gegenwart.

Familie Hood als Welt im Wassertropfen: Ben Hood, der seine Tage uninspiriert im Büro und ein paar freie Stunden im Bett der Nachbarin verbringt; seine Frau Elena, die Bücher über erfülltes Sexualleben liest und unter der zunehmenden Kälte ihres Mannes leidet, dessen Seitensprünge ihr längst nicht mehr verborgen sind. Langeweile, Einsamkeit und Prüderie liegen wie ein schwerer Teppich über dem Alltag der Kleinbürger von New Canaan, Connecticut. Nach außen hin wird zwar der Anschein eines erfüllten Lebens aufrechterhalten, aber die ausgebrannten Seelen schimmern durch die dünn gewordene Haut, und Auswege aus den verfahrenen Situationen führen immer nur in neue Sackgassen. Nach Jahren scheinbar ungebrochenen Selbstbewußtseins sind plötzlich alle in die Krise geraten. Es ist wie bei Tschechow. Ang Lee verknüpft die Erfahrungen und Haltungen der Erwachsenen mit denen der Kinder, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Paul Hood, der Sohn, wird auf dem Weg zum Ebenbild seines Vaters gezeichnet, von dem er sich eigentlich zu distanzieren versucht. Und Wendy, die Tochter, nimmt die Züge der Mutter an, deren Unglück sie zu reproduzieren scheint. Wie Ang Lee mit den jugendlichen Darstellern arbeitet, kann getrost als genial bezeichnet werden. Die Sehnsucht Pauls nach ersten sexuellen Erfahrungen, die auf einmal greifbar nah sind und dennoch nicht ausgelebt werden können, wird von Tobey Maguire in einer Mischung aus Neugier, Furcht und Anstand vorgeführt. Noch komplizierter ist die Rolle der Tochter Wendy, von Cristina Ricci mit einem fast maskenhaft unbewegten Gesicht gespielt: ein waches, am Tisch ihrer Eltern durchaus aufmüpfiges Mädchen, das die minderjährigen Nachbarjungen zu "verführen" versucht, tatsächlich aber nur Geborgenheit und ein bißchen menschliche Wärme sucht. Vielleicht die tragischste Figur, deren Weg in eine Welt der Drogen schon vorgezeichnet scheint.

Für Ang Lee bedeutet "Der Eissturm" ein Abschied von den klugen, würdigen Vaterfiguren, wie sie in "Das Hochzeitsbankett" (fd 30 467) und "Eat Drink Man Woman" (fd 30 959) zu sehen waren. Die Selbstzerstörung des "gütigen" Vaterbildes durch Richard Nixon gibt den Ton an und findet seine Entsprechung in der Krise der amerikanischen Väter überhaupt. Die Generation der 40jähri-gen taumelt im Strudel einer späten Pubertät; am deutlichsten zeigt sich das in einer Szene, in der während einer Party zum offenen Partnertausch aufgerufen wird. Wie in Shakespeares "Ein Sommemachtstraum" sind viele Figurenfäden zu einem dichten, kunstvollen Knäuel gebündelt. Der Sommernachtstraum freilich kippt bei Ang Lee ins Winternachtstrauma um. Alles scheint gefroren: die Straßen und die Herzen. Und erst der plötzliche, sinnlose Tod eines Kindes reißt die Erwachsenen aus ihrer Lethargie. Mit Hilfe dieses Schockmoments verleiht der Regisseur seinem Film philosophische und religiöse Dimensionen: Ein unschuldiges Opfer öffnet gleichsam das Tor zu Einsicht und Buße. Am Ende hat sich wenigstens die Hood-Familie - nach außen hin - wieder vereint: eine sehr verletztliche Gemeinschaft, die die eigentlichen Prüfungen erst noch bestehen muß.

Die an unterschiedlichen Orten ablaufenden Ereignisse jener Nacht werden dramaturgisch so gebündelt, daß alle wichtigen Figuren in die furiose, aber nie auf vordergründige Effekte zielende Montage einbezogen sind - ein Kunststück an Szenenaufbau, das im aktuellen Erzählkino seinesgleichen sucht. Überhaupt kommt "Der Eissturm" ohne jede modischen Mätzchen aus, er braucht keine schiefen Kameraeinstellungen und ausgetüftelte Gegenlicht-Aufnahmen, um Innenwelten nach außen zu kehren. Und doch ist seine "Natürlichkeit" auf kunstvolle Weise hergestellt worden. Penibel wird die Mode der 70er Jahre in all ihren Facetten rekonstruiert, ohne sich spöttisch darüber zu erheben: Wohnungen, Kleidung, Frisuren, Musik und Schmuck als Ausdruck eines Zeitgeistes, der sittliche Traditionen durcheinander wirbelte und die Moral auf den Prüfstand stellte. Der Film wirkt zunächst sehr kühl. Bei näherem Hinsehen ist er freilich alles andere als unterkühlt - sondern ein melancholisches Plädoyer für die Sehnsucht nach Harmonie, für das Verständnis der Generationen, das im Alltagsstreß auf der Strecke zu bleiben droht. So ist "Der Eissturm" faszinierendes humanistisches Kino.
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