Der schlafende Mann

- | Japan 1996 | 103 Minuten

Regie: Kohei Oguri

Der "schlafende Mann" hat durch einen Unfall sein Bewusstsein verloren, liegt im Koma und wird aufopferungs- und liebevoll von seinen Angehörigen in seinem abgelegenen Heimatdorf gepflegt, nicht zuletzt auch, weil sie fest mit (s)einem Erwachen rechnen. Ein Film von atemberaubender Schönheit, erzählt ohne Anfang und Ende als meditatives Einlassen auf eine entfliehende Seele im Sinn des traditionellen japanischen Verständnisses für Leben und Tod, als stille, äußerst zarte, wenn nicht gar zärtliche Reflexion über die Balance von Mensch und Natur. Stets vermittelt der Film unausgesprochen eine Präsenz des Ewigen im Zeitlichen sowie des Unendlichen im Endlichen. Das Jenseits ruft und reicht ins Diesseits hinein - dies gibt der Film auf geradezu feierliche Art und Weise zu bedenken. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
NEMURU OTOKO
Produktionsland
Japan
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Space Co. Ltd.
Regie
Kohei Oguri
Buch
Kohei Oguri · Kiyoshi Kenmochi
Kamera
Kiyoshi Kenmochi
Musik
Toshio Hosokawa
Schnitt
Nobuo Ogawa
Darsteller
Sungki Ahn (Takuji) · Christine Hakim (Tia) · Kôji Yakusho (Kamimura) · Masaso Imafuku (Kiyoji, Takujis Vater) · Masako Yagi (Fumi, Takujis Mutter)
Länge
103 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Dass die Grenzen meiner Sprache auch die Grenzen meiner Welt seien, war einer jener Wittgensteinschen Schlüsselsätze, deren Engführung der österreichische Sprachphilosoph später selbst mit der Theorie der Sprachspiele aufzuheben versuchte. Auch Kohei Oguris bildmächtige Meditation „Der schlafende Mann“ kann als Kritik der neuzeitlichen Subjektivität verstanden werden, die das Individuum zum Maß aller Dinge erklärte. In einem japanischen Städtchen am Fuße mächtiger Berge liegt ein Mann in einem schlichten Holzhaus im Koma. Takuji war lange fort, in Südamerika. Nach seiner Rückkehr stürzte er im Gebirge ab. Seither kümmern sich seine Eltern um ihn, waschen, nähren und pflegen ihn. Ein Schulfreund besucht ihn ab und zu und erinnert sich ihrer gemeinsamen Jugendzeit. Auch in den Gesprächen anderer taucht Takuji gelegentlich auf; eine Barsängerin aus „Südostasien“ mit Namen Tia nimmt von fern an seinem Schicksal Anteil. Viel mehr passiert nicht, während der Winter ins Land zieht und die Bäume wieder zu blühen anfangen. Im Sommer aber ändert sich Takujis Zustand. Als sich seine Familie um ihn versammelt, fegt eine Windhose sacht durch den Hof und nimmt seine Seele mit. Tage später besucht Tia ein Nô-Theaterstück, nach dem sie in die Berge geht, wo ihr Takujis Geist begegnet. Am nächsten Morgen steht Takujis Schulfreund vor der alten Hüte, in der sie übernachtete, weil auch er fühlt, dass der Tote hierher zurückgekehrt ist. Mehr als solche dürren Handlungslinien lassen sich kaum wiedergeben, weil sich Koheis hoch stilisiertes Film-Haiku einer Nacherzählung nahezu komplett verweigert, da von einem herkömmlichen Plot kaum gesprochen werden kann und der Film auch nicht episodisch strukturiert ist. Am ehesten kann er als (bewegte) Bildkunst verstanden werden, die stärker der Malerei als dem Theater verhaftet ist, wenn man solche europäischen Kategorien überhaupt in Anspruch nehmen will. Als Betrachter ist man auf eine wache Kontemplation verwiesen, die der wortkarge, oft in Halbtotalen verweilende Film durch seine konzentrierte Art und den weitgehenden Verzicht auf Filmmusik durchaus befördert. Auch die Sorgfalt bei der Kadrierung und eine fein nuancierte Farbgebung, von der vor allem die große Palette nachtblauer Töne in Erinnerung bleibt, erleichtern den Zugang ins Zeichenreich, unter denen zunächst die Insignien der Moderne deutlich hervorstechen. Immer wieder schieben sich Brücken ins Bild, die den (Blick-)Raum durchschneiden und verengen; wo sich Schienen, Straßen und Beton ausbreiten, schrumpft die Welt auf Taschenformat, während sich der Himmel über den Bergen bis zum Horizont spannt. Man spürt eine leise Sehnsucht in diesen Bildern, die an die Naturmystik der Romantiker erinnert, ohne dass daraus ein Polemik erwüchse oder ein „Zurück zur Natur“-Programm. Vielmehr umspielt und umfängt der Film fast demütig alles Erscheinungsformen und trägt sie wie ein Fluss mit sich, wobei für westliche Ohren vor allem das Thema der Fremdheit zu vernehmen ist. Nicht nur Tia, die aus Korea stammt, wird als „Fremde“ zur Projektionsfläche des Unverstandenen, auch der „schlafende Mann“; Träume, Naturphänomene oder das dunkle Geheimnis des Todes dienen als Spiegel individueller Begrenztheit. Der Film stellt eine Vielzahl von Figuren und Perspektiven vor- und nebeneinander, die dramaturgisch kaum verbunden sind, in ihrer disparaten Fülle aber die Ahnung von etwas Umfassenderem vermitteln. Das Bild des ab- und zunehmenden Mondes, der in seiner vollen Gestalt als eine Art Leuchte auch über Takujis Bett hängt, könnte durchaus als bildhafte Metapher für das Anliegen des Films genommen werden, an eine Einheit zu erinnern, die Geburt und Tod, Tag und Nacht, Natur und Moderne umfasst. Japanische Rezensionen interpretierten diesen Zusammenhang öfters als eine Art Kreislauf allen Seins, der Werden und Vergehen umgreift. Als Europäer fühlt man sich angesichts dieser stillen, hoch konzentrierten Bilder einerseits so „fremd“ wie beim Nô-Theater, andererseits aber auf nachhaltige Weise in eine Region jenseits „meiner Sprache“ entführt, die zumindest für die Dauer des Films aus den Zwängen diskursiver Rationalität befreit. Der Ausdeutung der leisen, nachhallenden Bilder sind dort keine Grenzen gesetzt.
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