- | Frankreich 1998 | 105 Minuten

Regie: Marie Vermillard

Eine junge Frau arbeitet als Ansagerin in der Métro, bewegt sich ansonsten fast schlafwandlerisch durch den Mikrokosmos ihrer Wohngemeinschaft. Um sie herum wird gestritten, gelacht und geweint - das Chaos scheint kaum zu ihr durchzudringen. Dass sie schwanger ist, erfährt man erst, als sie sich entschließt, das Kind auszutragen. Ein fast impressionistisch hingetupfter Film von großer inszenatorischer Leichtigkeit, in dem sich nichts aus bloßem Zufall ereignet. Beeindruckend ist vor allem die Souveränität, mit der die Fülle des Materials verknüpft wird, wobei die Nähe zur Hauptperson stets Vorrang hat. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
LILA LILI
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Gemini Films/Canal +/Centre National de la Cinematographie
Regie
Marie Vermillard
Buch
Jacques Bablon · Marie Vermillard
Kamera
Pascal Lagriffoul
Schnitt
Valérie Loiseleux
Darsteller
Alexia Monduit (Micheline) · Geneviève Tenne (Nadège) · Simon Abkarian (Simon) · Antoine Chappey (Claude) · Zinedine Soualem (Alain)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
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Diskussion
Micheline ist Mitte 20 und lebt in einem Heim für Frauen in sozialer Notlage - eine Einrichtung, wie es sie vergleichbar in Deutschland nicht gibt. Die Bewohnerinnen - mit und ohne Kindern - teilen sich Gemeinschaftsräume wie Küche und sanitäre Anlagen, verfügen über eigene Wohnräume, dürfen aber männlichen Besuch empfangen und Anschrift sowie Telefonnummer jedermann kundtun. Tagsüber arbeitet Micheline als Ansagerin in einer Métro-Station, in freien Stunden fährt sie mit einer Handball-Mannschaft übers Land, grübelt über ihr Dasein nach oder bewegt sich schlafwandlerisch durch den Mikrokosmos ihrer Wohngemeinschaft. Ringsum wird unentwegt gestritten, gelacht und geweint, doch das Chaos scheint nicht bis zu ihr durchzudringen. Dass sie „ein Kind unterm Herzen trägt“, erfährt man erst, als sie sich entschließt, dieses auszutragen. Da ist der Film schon zu einem Drittel vorüber. Der Vater bleibt bis zum Ende unbekannt, findet keine Erwähnung. Bevor Lila Lila geboren wird, gibt es noch diese Geschichte mit Simon, der sich ins Frauenhaus einschleicht und durch sämtliche Zimmer schläft. Man erfährt außerdem von Michelines in der gerontologischen Abteilung eines Krankenhauses liegenden Großmutter, deren Haus von der Enkelin gepflegt wird, als bestünde Hoffnung auf Rückkehr.

In diesen scheinbar hingetupften Eckdaten formuliert sich der Stil des Spielfilmerstlings von Marie Vermillard: ein fast impressionistisches Verfahren, bei dem sich erst nach und nach bzw. mit gehörigem Abstand ein Gesamtbild erschließt. Aber in diesem Film ereignet sich nichts aus Zufall, es gibt nichts Überflüssiges - so wenig wie im „richtigen Leben“. Von den ersten Szenen an glänzt „Lila Lila“ mit erzählerischem Understatement: Micheline schlendert durch Vorstadtstraßen, hinter einem Maschendrahtzaun schlägt ein Rottweiler an, man schrickt ebenso zusammen wie die Heldin. Wenig später beobachtet sie, wie Kinder auf einer Müllkippe irgendeinen schrecklichen Fund machen. Ein totes Tier, eine menschliche Leiche sogar? Man erfährt es nicht, Micheline wird vom Bus ihrer Handball-Mannschaft abgeholt. Nach dem Freundschaftsspiel gegen eine russische Mannschaft sind sämtliche Spinde aufgebrochen, doch der Dieb hatte es zum Glück nur auf die Unterwäsche der Mädchen abgesehen. In einem Lebensmittelgeschäft wird die ständig ihre Stirn kraus ziehende Micheline Opfer eines kleinen Betrugs: Während ein angeblicher Kunde die Einkäuferin ablenkt, gibt der Verkäufer statt auf 200 auf 100 Francs Wechselgeld zurück. Der Komplize des Ladeninhabers ist übrigens Simon - er läuft hier der Heldin quasi zu, um fortan immer wieder ihre Wege zu kreuzen. So ist es immer: Die harmlose Alltagsidylle, wie man sie aus zahllosen französischen Filmen kennt und liebt, wird durchbrochen von Boten des Unheils, die sich jedoch als nicht relevant genug erweisen, um wirklich den Lauf des Geschehens zu bestimmen. Regelmäßig kommt es zu Situationen, die dazu angetan sind, der Handlung einen dramatischen Anstoß zu verleihen - doch sie fungieren als anekdotische „Tupfer“, nach und nach einen eigenen, faszinierenden Kosmos entwerfend. Einziges Kontinuum und damit treibendes Moment bleibt die Schwangerschaft der jungen Frau. Man wird Zeuge eines langen Selbstfindungsprozesses zwischen Verwirrung, Ablehnung und Entschlossenheit, der auch mit der finalen Entbindung noch nicht abgeschlossen ist.

Die Vorzüge von „Lila Lili“ erschöpfen sich nicht in der an Eric Rohmer erinnernden inszenatorischen Leichtigkeit oder in der Natürlichkeit der Darsteller - Vermillards Talent formuliert sich vor allem in der Souveränität, mit der sie die Fülle des Materials verknüpft; Vorrang hat dabei immer die Nähe zur Hauptperson. Am Rand werden noch seltene Einblicke in Institutionen und Gebräuche des Nachbarlands gewährt. So lässt Nadège, engste Freundin von Micheline und ständig mit der Suche nach Männern befasst, ihren beiden unehelichen Kindern eine Art weltliche Taufe zuteil werden. Bei diesem offiziellen Akt mit Hymne vom Band und Präsidentenporträt an der Wand trifft eine illustre Gesellschaft zusammen. Als anschließend die Feiertagsrunde vor die Tore von Paris fährt, um an einem Kanal gemeinsam Picknick abzuhalten, wird klar, dass es sich dabei um eine Gruppen-Allegorie der französischen Gesellschaft handeln soll. Dies ist der einzige Moment, an dem die Regisseurin einen Hauch zu weit ausholt: Es gibt den Intellektuellen, die Großbürgerliche, es gibt Afrikaner und Araber, Arbeiter, Arbeitslose und Angestellte, es gibt Kinder - man tummelt sich im Gras, spielt Fußball, liebt und streitet sich. Zuletzt kreuzt vor dieser buntscheckigen Gruppe sogar noch ein leerer Vergnügungsdampfer, von dessen Heck die Europa-Flagge weht. Und aus den Bordlautsprechern dröhnt Mozarts Requiem. Angesichts der sonstigen, durchweg zurückhaltenden Inszenierung sollte diese Übertreibung schnell vergessen werden.
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