Louise (Take 2)

- | Frankreich 1998 | 110 Minuten

Regie: Siegfried

Eine junge Französin gehört zu einer Bande von Jugendlichen, die sich durch kleine Diebstähle und Hehlereien über Wasser hält. Bei ihren Streifzügen durch Paris begegnet sie einem Vagabunden, in den sie sich verliebt. Als sie ihn eines Tages aus den Augen verliert, wird sie sich ihrer Sehnsüchte bewußt und gerät immer tiefer in einen Strudel aus Angst und Wahnsinn. Ein Film über das atemlose Rennen nach Geborgenheit, Zärtlichkeit und Glück, wobei Seelenzustände über Bilder und Montagen erfahrbar gemacht werden. Stilistisch innovativ, sozial und atmosphärisch genau, leider gegen Ende etwas redundant. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LOUISE (TAKE 2)
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Initial Productions/Le Studio Canal+/Ciné Valse/Sofica Cofimage9/Sofica Images/Canal+
Regie
Siegfried
Buch
Siegfried
Kamera
Siegfried · Vincent Buron
Musik
Siegfried
Schnitt
Hervé Schneid
Darsteller
Élodie Bouchez (Louise) · Roschdy Zem (Rémy) · Gérald Thomassin (Yaya) · Antoine du Merle (Gaby) · Bruce Myers (Bettler)
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Lola rennt durch Berlin, Louise durch Paris. Beide Filme sind schnell, modern, jugendlich, wie Videoclips inszeniert und montiert. Aber es gibt einen gravierenden Unterschied: Während Tom Tykwer, durchaus brillant, die Form weitgehend zum Selbstzweck gerinnen läßt, ohne sich sonderlich für die Tiefen der Figuren und der Geschichte zu interessieren, transportiert der Musiker und Filmemacher Siegfried eine sozial und psychologisch genau umrissene Fabel. Die Hast seiner jugendlichen Heldin resultiert nicht aus einem simplen Kriminalplot, sondern aus einer tief sitzenden, kaum in Worte faßbaren existentiellen Unruhe: Der Flug und der Fluch eines schnellen, zunehmend als sinnlos empfundenen Daseins, das atemlose Rennen nach Geborgenheit, Zärtlichkeit, Glück, die zwischen zwei Augenaufschlägen zerrinnende Hoffnung, die immer wiederkehrt, aber immer kleiner wird und schließlich nur noch in Rudimenten spürbar ist, in einem Blick, einem angedeuteten Lächeln, das aus dem Meer der Verzweiflung hervorleuchtet.

Louise und ihre Freunde sind Kinder der Straße. Gierig nach Leben, ohne Angst und ohne Arg. Man verbringt die Zeit mit Taschendiebstählen und Hehlereien, klaut im Bus, prügelt sich in der Métro, streunt herum. Zwischen den verschiedenen Gangs eskaliert die Gewalt ebenso schnell, wie sie wieder abflaut. In der Gruppe ist man stark, behütet sich und legt sich gegenseitig Fesseln an. Louise zum Beispiel steht unter der Obhut von Yaya, der sie für seinen Freund Greg bewacht; und der ist im Gefängnis. Fremde haben keinen Zutritt. Aber Louise begegnet dem Vagabunden Rémi. Nicht besser und nicht schlechter als all die anderen, nur ein bißchen älter und gewiefter im Umgang mit Frauen. Der Fremde löst das Mädchen aus der Gruppe und zerstört es damit gegen seinen Willen. Der Film läßt dem unerbittlichen Schicksal seinen Lauf: Es gibt keine Utopien in den Schlünden der Großstadt.

Siegfrieds Handkamera eilt durch Paris. Die grobkörnigen Bilder dringen ins Labyrinth der Metropole, den Figuren hautnah auf den Fersen. Dennoch läßt diese Nähe auch genügend Raum für scheinbare Nebensächlichkeiten: zufällige Passanten, Polizisten, den Bettler am Straßenrand – oder auch nur, am Ortseingangsschild von Paris, eine Ampel, die auf Rot steht. So hastet der Film durch die Galerie Lafayette, balanciert über Dachfirste, dringt in ein Ballettstudio ein, rast die Bürgersteige entlang, nimmt den Zuschauer mit auf eine unendliche Achterbahnfahrt. Zwischen die Aktionen baut der Regisseur Momente der Ruhe und erfindet Dialoge, mit denen die Seelenzustände der Protagonisten zusätzlich erhellt werden sollen. Nicht immer ist das, was die jungen Darsteller von sich geben müssen, sehr originell; in manchen Gesprächen wabern Bedeutungshuberei und Didaktik: „Warum weinst Du?“, fragt Rémi einmal das Mädchen nach einem bösen Streich. „Weil ich’s nicht will.“ – „Und warum hast Du’s gemacht?“ – „Weil es das Leben ist.“

„Louise (Take 2)“ reflektiert über die Freiheit und die Angst davor, frei zu sein, und zugleich philosophiert der Film über das Eingesperrtsein in ganz unterschiedlichen Varianten. Nichts ist eindeutig gut oder schlecht: Die Gruppe kann Schutz sein und Kerker, die Großstadt Heimat und Hölle, die Romantik ein Refugium und eine böse Illusion. Die staatliche Fürsorge, in die Louise gerät, treibt die Ängste des Mädchens aus seinem Inneren nach außen; je mehr es sich in seinen vermeintlich verlorenen Hoffnungen verstrickt, um so mehr deliriert der Film. Die subjektive Wahrnehmung der Welt durch das Auge der Regie entspricht den Seelenzuständen der Heldin: Irgendwann wird die Realität nur noch schemenhaft wahrgenommen, in Zeitlupe, kleingehäckselt, unergründbar, undurchschaubar. Louise kippt, Stück um Stück, aus dem forcierten Aktionismus in den Wahnsinn. Sie sucht ihre Freunde, forscht nach Rémi, in den sie sich verliebt hat, und nach dem Jungen Gaby, den sie irgendwann von der Schule abhielt und mitnahm. Allen drei gemeinsam ist die Utopie der Familie. Und sie bleibt nur ein Traum. So wird die Einsamkeit zur Psychose. Louises unheilbar verletzte Seele ist in ein unvergeßliches Motiv gebannt: das ganz auf sich zurückgeworfene Mädchen in Seidenhemd und Wattejacke, bettelnd, aber nicht frierend, balancierend auf dem Mittelstreifen der Fahrbahn.

Siegfried erklärt nichts. Er ertastet, erfühlt, läßt seine Hauptdarstellerin Élodie Bouchez im Strom des Geschehens treiben. Ein Film wie ein zärtlicher, erregender, trauriger Blues, untersetzt mit Klassik und Hip-Hop. Vielleicht ist „Louise (Take 2)“ ein paar Momente zu lang, vielleicht war Siegfried zu verliebt in die Atmosphäre und übersah die Redundanz, die besonders das letzte Drittel belastet. An den Schluß seiner Liebeslegende, die zugleich auch eine ambivalente Hommage an Paris ist, setzte der Regisseur jedenfalls die Vision eines Paradieses. Unwirklich, ein erst nach dem Tod zu gewinnendes Universum. Die urbane Poesie hat dafür keinen Raum, und so endet der Film an einem imaginären, weißen Strand.
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