Tragikomödie | Großbritannien 1998 | 102 Minuten

Regie: Peter Mullan

Als ihre Mutter stirbt, treffen vier Geschwister in Glasgow zusammen. Die nachfolgende Nacht wird ihr Leben nachhaltiger verändern, als dies die Tatsache des Todes hätte tun können. Bei einem Pub-Besuch zettelt einer von ihnen einen Streit an und wird ernsthaft verletzt, der zweite will ihn rächen, die querschnittsgelähmte Tochter irrt vereinsamt mit ihrem Rollstuhl durch die Nacht, während der frömmelnde dritte Bruder durch nichts von der Totenwache abzuhalten ist. Eindrucksvolles Regiedebüt in der Tradition Ken Loachs, dessen Filmsprache mit phantasmagorischen Zugaben versehen wird. Gleichermaßen komisch und tragisch, strotzt der Film von ausgeklügelten Bildeinfällen und wartet mit überraschenden szenischen Lösungen auf. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
ORPHANS
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Antonine Green Bridge Prod./The Scottish Arts Council/The National Lottery Fund/The Glasgow Film Fund/Channel Four Films
Regie
Peter Mullan
Buch
Peter Mullan
Kamera
Grant Scott Cameron
Musik
Craig Armstrong
Schnitt
Colin Monie
Darsteller
Douglas Henshall (Michael) · Gary Lewis (Thomas) · Stephen McCole (John) · Rosemarie Stevenson (Sheila) · Frank Gallagher (Tanga)
Länge
102 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Tragikomödie
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Das „britische Filmwunder“ muss mit jedem gelungenen Beitrag neu definiert werden. Es handelt sich dabei nämlich nicht um eine modische Welle, die einmal anschwillt und dann wieder verebbt, sondern eher um eine zyklische Erscheinung, auf die man sich verlassen kann wie auf den nächsten Frühling. Dabei geht es zuallerletzt um Quantität. Auch in eher schlechten Jahrgängen (wie es 1998 und 1999 waren) gibt es herausragende Solitäre - diese allerdings stellen keine Ausnahmen von der Regel dar, sondern zeugen von Kontinuität. „Orphans“ ist ein solcher Film, eine Arbeit „aus der zweiten Reihe“, dies in doppelter Hinsicht. Ort der Handlung ist die schottische Hauptstadt Glasgow, ein kinematografisch kaum frequentierter Schauplatz; mit Regisseur Peter Mullen debütiert ein gestandener Schauspieler (u.a. „My Name is Joe“, fd 33 480), der das zarte Anfängeralter längst überschritten hat.

Michael, Thomas, John und Sheila treffen am Totenbett ihrer geliebten Mutter zusammen. Beim anschließenden Pub-Besuch nimmt das Unheil seinen Lauf: Michael zettelt einen Streit an und wird ernsthaft verletzt; John will ihn rächen, die querschnittsgelähmte Sheila irrt vereinsamt mit ihrem Rollstuhl durch die Nacht, während der frömmelnde Thomas, eigentlicher Verursacher der Verstrickungen, durch keine noch so drastische Wendung des Geschehens von der Totenwache abzuhalten ist. Nach einer Nacht voller existenzieller Begegnungen und Erfahrungen treffen die vier Geschwister wieder aufeinander - die wenigen Stunden zwischen Abend und Morgen haben prägende Spuren hinterlassen. Und fast scheint es, als sei ihre Kindheit erst jetzt beendet worden.

Wie bei Ken Loach rekrutieren sich auch bei Mullan die Helden aus unterprivilegierten sozialen Schichten; wie bei Loach werden sie durch unvorhergesehene, äußere Anlässe aus ihrem ohnehin mühseligen Überlebenskampf geschleudert und durchlaufen kathartisch wirkende Erlebnisse. Doch bei Mullen kommen noch starke phantasmagorische Momente hinzu. Als das unglückselige Quartett in die entscheidenden Nachtstunden eintritt, steigern sich diese ins geradezu Apokalyptische. Ein Orkan hebt an, der Strom fällt aus, Regen peitscht, und Thomas muss sogar erleben, dass das Dach der Kirche abgehoben wird. Eindrucksvoll gelingt es Mullen, die immer aberwitziger werdenden Handlungsstränge zu verzahnen, dabei die Charakterisierung seiner Figuren wohldosiert herauszuarbeiten. Sein Film ist gleichermaßen komisch wie tragisch, strotzt von nie gesehenen Bildeinfällen und wartet immer wieder mit überraschenden szenischen Lösungen auf.

Ganz nebenbei ist „Orphans“ auch eine subtile Studie über die Abwesenheit von Vätern. Es gibt kein filmisches Erinnerungsbild an den Vater der vier Geschwister. Erst ganz zum Schluss liest man auf dem Grabstein der Mutter, dass sein Name John Flynn (!) gewesen ist und sein Tod schon viele Jahre zurückliegt. Auch Michael wird als ein Mann gezeichnet, der nicht in der Lage ist, den eigenen Kindern Vater zu sein. Wohl nicht zufällig hat Mullan sein Debüt der eigenen Mutter gewidmet. Der Verleih kam zum Glück gar nicht erst auf die Idee, „Orphans“ einer Synchronisation zu unterwerfen. Der harte schottische Akzent erinnert phonetisch kaum an jenes Englisch, wie man es sonst aus den Medien kennt, und trägt ganz wesentlich zur Authentizität des Films bei. Universelle menschliche Erfahrungen erleben damit ihre ebenso eindrucksvolle wie konkret-regionale Verortung.
Kommentar verfassen

Kommentieren