Der Sohn (2002)

- | Belgien/Frankreich 2002 | 103 Minuten

Regie: Jean-Pierre Dardenne

Der Schreinermeister einer belgischen Gewerbeschule erhält einen neuen Lehrling zugeteilt, in dem er den Mörder seines Sohnes erkennt. Dokumentarisch anmutender Spielfilm, dessen hyperrealistische Formsprache jede (melo-)dramatische Verdichtung meidet, ohne freilich vollständig auf klassische Spannungsmomente zu verzichten. Der herausfordernde Erzählgestus löst die Konfrontation der Figuren ebenso wenig auf wie er dem Zuschauer eine eindeutige Erklärung an die Hand gibt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
LE FILS
Produktionsland
Belgien/Frankreich
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Les Films du Fleuve/RTBF/Archipel 35
Regie
Jean-Pierre Dardenne · Luc Dardenne
Buch
Jean-Pierre Dardenne · Luc Dardenne
Kamera
Alain Marcoen
Schnitt
Marie-Hélène Dozo
Darsteller
Olivier Gourmet (Olivier) · Morgan Marinne (Francis) · Isabella Soupart (Magali) · Nassim Hassaini (Omar) · Kevin Leroy (Raoul)
Länge
103 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.

Diskussion
Das verkniffene Gesicht des Schauspielers Olivier Gourmet war allemal den Darsteller-Preis in Cannes wert: So sieht er aus, der sprichwörtliche ältere Junggeselle ohne Freunde. Die soziale Isolation ist ihm als unwägbare Ausdruckslosigkeit ins Gesicht geschrieben, bis man schließlich hinter der unauffälligen Maske der Mittelmäßigkeit ein Geheimnis zu ahnen beginnt. Im Drehtagebuch heißt es: „Die Handlung ist der Charakter, undurchsichtig, enigmatisch. Vielleicht nicht der Charakter, sondern der Darsteller selbst: Olivier Gourmet, sein Körper, sein Nacken, sein Gesicht, seine hinter den Brillengläsern verlorenen Augen. Wir können uns den Film nicht mit einem anderen Körper, einem anderen Schauspieler vorstellen.“ Gourmet spielt den Schreinermeister Olivier, der an der Gewerbeschule unterrichtet. Man sieht den bulligen Mann, wie er dem neuen Schüler Francis hinterherschleicht, sich unter Ausreden aus der Werkstatt stiehlt, um einen kurzen Blick auf den Jungen zu erhaschen. Immer wieder blickt er sich um, aus Angst vor Beobachtung. Dieser Blick über die eigene Schulter zurück versetzt auch den Kinozuschauer in Spannung, der seinerseits zu fürchten beginnt, vom Leinwandcharakter beim Spannen ertappt zu werden. Dazu keine Musik, keine bildästhetischen Sperenzchen – nur die verwackelten Bilder der Handkamera und als Soundtrack der schwere Atem Oliviers oder die Stille, wenn er sich mit angehaltener Luft in einer Nische versteckt. Lange bevor die dänische „Dogma“-Gruppe Handkamera und Originalton verordnete, haben Luc und Jean-Pierre Dardenne zu einer hyper-authentischen Formsprache gefunden. Zunächst drehten sie Dokumentarfilme, doch den dokumentarischen Gestus haben sie sich auch für ihre Spielfilme erhalten. In „La Promesse“ (fd 32 891) hat man begeisternd nah an der Realität gefilmt, eigentlich aber eine Kolportagegeschichte um einen jugendlichen Straftäter erzählt, die trotz formalen Realismus inhaltlich mitunter ins Klischee abrutschte. In „Rosetta“ (fd 34 825) verband sich die eigenwillige Art zu filmen mit einer ebenso eigenwilligen und sperrigen Geschichte: Die Beobachtung einer jungen Frau im Niemandsland sozialer Randständigkeit, deren größter Traum sich darauf reduziert, in einer Imbissbude Arbeit zu finden, geriet zum Meisterwerk. Ohne Kommentar fuhr die Kamera dem Alltag der Protagonistin nach, und auf dieser Fahrbahn geriet der Zuschauer ins faszinierte Schlingern. Der Film blieb ebenso jede Antwort schuldig wie die Figur ihrer Umgebung, und auch das scheinbare Happy End war ein zu bitter erkauftes, als dass es wirkliche Entspannung gebracht hätte. In „Der Sohn“ nun versuchen die Dardennes, diese prekäre Spannung zwischen Erzählendem und Rätselhaftem erneut aufzubauen und gar noch zu radikalisieren. Tunlichst scheint man bemüht, nur ja nicht ins Melodramatische abzugleiten. Noch reduzierter nimmt sich das aus, was an Erzählung geliefert wird. Es ist ein Film, der keinen anderen dramatischen Bogen zu haben scheint als den des alltäglichen Lebens selbst – Kino als Observatorium der kleinen Gesten. Man sieht Olivier durch die Stadt schleichen, in seiner einsamen, uneingerichteten Wohnung hantieren. Doch seine Verhaltenheit beginnt auch da nicht zu bröckeln, als er unerwartet Besuch von seiner Ex-Frau bekommt. Aktiv wird er erst, wenn er Francis beobachtet; wenn er die Schulleitung darum bittet, der Junge möge ihm zugeteilt werden. Olivier scheint mit einer Leidenschaft unter Verschluss zu agieren, man erwartet die Eskalation. Dieses Verhaltene, Sperrige provoziert Kritikerlob. Wo man von einer altbackenen Opposition zwischen Unterhaltung und Kunst ausgeht, vermutet man in allem, was so hartnäckig wider den Zuschauergeschmack geht, allzu gerne ein Meisterwerk. Das vernebelt den Blick dafür, dass hier zwar der Erzählgestus radikal ist, das Erzählte selbst jedoch nicht zu tragen vermag. Aller Subtilität und Verhaltenheit zum Trotz wird insgeheim mit dem klassischen Methodenbesteck des Thriller-Verwirrspiels operiert. Fein säuberlich legt der Film falsche Fährten aus, wie etwa die, es könnte sich bei Oliviers Verfolgungen um eine pädophile Obsession handeln. Ein Holzweg, der später nicht ohne dramatischen Überraschungseffekt in eine Studie über Schuld und Vergebung münden wird. Mehr und mehr entpuppt sich die scheinbare Authentizität als bloßer Effekt, als Schutzschirm vor einer doch eher holzschnittartigen Story. Das angeblich Unkonstruierte ist Kalkül. Das wäre zu verschmerzen, würde der Film als klassisches Melodram unter dokumentarischem Tarnmantel funktionieren; doch hierzu hat er doch zu wenig Spannendes zum Erzählen. Wo er vorgibt, das vielsagende Schweigen zu wagen, ist ihm in Wahrheit die Puste ausgegangen. Das differenzierte Spiel des Hauptdarstellers zerschellt an den Schematismen, in denen der Film endet. Was als Substrat bleibt, ist eine lobenswerte, aber allzu simpel gestrickte Moral – zum Leidwesen des Films, denn „gut gemeint“ ist längst noch nicht „gut“.
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