Paraiso (2003)

Musikfilm | Deutschland 2003 | 92 Minuten

Regie: Alina Teodorescu

Dokumentarisches Porträt einer kubanischen HipHop-Band, bei dem sich experimentelle Bildgestaltung und inszenierte Sequenzen mit einer präzisen und doch wie beiläufig präsentierten Beobachtung verbinden. Aus Alltagsansichten, Songs und Texten, anschaulichen Erzählungen über das Leben, die Liebe und das Verhalten der Geschlechter entsteht eine poetische Mischung aus fiktivem Road Movie und authentischem Künstlerporträt. Dem Land, der Musik und dem Wesen der Latinos auf der Spur, bietet der aufwändig gestaltete Film ein komplexes Porträt der jungen Generation Kubas. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Teo-Film
Regie
Alina Teodorescu
Buch
Alina Teodorescu
Kamera
Sorin Dragoi
Musik
Madera Limpia
Schnitt
Alina Teodorescu
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Musikfilm | Dokumentarfilm

Diskussion
Ein gelber Chevrolet Baujahr 1957 schiebt sich langsam von hinten ins Bild. Plötzlich geben die Antriebskräfte nach, und die Motorhaube verschwindet wieder hinter der Straßenkuppe. Die Szene wiederholt sich im Verlauf von „Paraiso“ mehrere Male. Ob es an der Altersschwäche der Maschine oder am fehlenden Benzin liegt, dass der Wagen nicht über die Kuppe kommt, bleibt offen und ebenso die Frage, ob sich das Zitat, das Alina Teodorescu ihrem Film voranstellt, auf den Running-Gag mit dem Chevrolet bezieht: „Der Anfang der Dinge liegt nicht in der Vergangenheit, sondern im Hier und Jetzt, in jedem Augenblick.“ Hinter dem Steuer sitzt Rafael, der, auf der steten Suche nach Benzin, Yasel mitnimmt, weil er beim Anschieben Hilfe braucht. Die Kamera blickt durch die zersprungene, nur notdürftig mit Klebestreifen fixierte Scheibe auf das Leben in den Straßen Guantanamos. In der Nähe des amerikanischen Militärstützpunktes, rund 1000 Kilometer von Havanna entfernt, gibt es keine Touristen und keinen „Buena Vista Social Club“. An einem öden Strand sammeln junge Männer Treibgut, Äste und leere Plastikflaschen, prüfen kurz den Klang der neuen Schlaginstrumente und legen los. „Tönendes Holz“, „Madera Limpia“, ist der Name der Band. Ähnlich wie die Musiker der HipHop-Band kommt auch der Film schnell zur Sache. Noch bevor sich der Vorspann zu Ende neigt, ist die fast 50 Jahre alte Luxuskarre das erste Mal versackt.

Alina Teodorescu hat Yasel und die Mitglieder seiner Band eine Zeit lang filmisch begleitet und aus poetischen Bildern einen im Rhythmus des kubanischen HipHop pulsierenden Dokumentarfilm gestaltet. HipHop, Rap, Reggae und traditionelle Formen wie Rumba, Timba und Changuy stehen im Leben der jungen kubanischen Musiker im Mittelpunkt. Ihre Texte kreisen um den alltäglichen Kampf ums Überleben, und so dreht sich in „Paraiso“ alles um die Musik, die Armut, die Träume, die Liebe und die Langeweile. „Das wichtigste in meinem Leben? Während ich lebe, träume ich von dem, was mir fehlt. Und mir fehlt alles. In dem ich lebe, erfahre ich es!“, sagt Yasel, der weit davon entfernt ist, deprimiert zu sein. Denn er weiß: „Ein frustrierter Künstler ist das Schlimmste, was es gibt.“ Nachts, wenn er schläft, hat er immer einem Block und einen Bleistift griffbereit, falls ihm eine Idee zu einem Rap-Song einfällt. Während Yasels Off-Stimme erzählt, springt die Kamera von einer Einstellung zur nächsten. Mal zeigt sie Yasel in verschiedenen Lagen auf dem Bett, mal schaut sie von oben in die Zimmer. Wie im Zeitraffer ruckeln die Bilder mit Reißschwenks vorbei, und man wundert sich über die luftige Bauweise, die fehlende Decke, die den Blick auf die Schlafenden freigibt.

Viele Szenen wirken inszeniert. Ein künstlicher Effekt, der durch die stellenweise grobe Körnung der Bilder verstärkt wird. Bilder und Tonspur gehen oft getrennte Wege, beispielsweise bei einem Gespräch über das Rauchen zwischen Yasel und seiner Mutter. Es ist die ausgeklügelt dichte Gestaltung, die „Paraiso“ von anderen Musikfilmen unterscheidet und zu einem gelungenen Dokument macht; es sind die künstlich und zugleich authentisch wirkenden Bilder, die Sorin Dragois Kamera mal durch die Fenster von Rafaels Chevi rahmt, mal beiläufig und zufällig wie von einer Überwachungskamera in körnigem Schwarz-weiß beobachtet filmt: spielende Kinder, tanzende Mädchen, Männer, die Feuerholz auf einen Karren sammeln und es in der Stadt verteilen. Die Musiker wischen das Wasser aus dem Probenraum, in den es hinein regnet, auf primitiven Feuerstellen wird gekocht, ein Schwein wird gefüttert, während Yasel im Freien duscht und, in der nächsten Einstellung, bei einem tropischen Wolkenbruch der Überschwemmung im Garten Herr zu werden versucht. Einmal lässt Alina Teodorescu die Band- Mitglieder mit ihren Freundinnen bei einem Barbecue am Strand vermittels sprunghafter Schnitte im Meer verschwinden. Die Interview-Passagen mit Yasel und den Musikern der „Madera Limpia“ sind kurzweilig gestaltet. Man folgt den Ansichten der jungen Männer über die Liebe und das Leben und ist überrascht, dass auch Frauen zu Wort kommen. „Von der Liebe allein kann man nicht leben“, zitiert eine von ihnen ein altes kubanisches Sprichwort. In der Gegenüberstellung der Anschauungen werden plötzlich auch die Abgründe des brüchigen Paradieses deutlich. Wenn junge Kubanerinnen sich reiche Ausländer, die ihre Großväter sein könnten, aussuchen, dann geht es nicht um Sex oder Liebe, sondern um Geld und ein anderes Leben. Im kubanischen Paradies herrscht tödliche Langeweile. „Langweilig ist mir, tödlich langweilig, ich versinke in Apathie“, singt Yasel in einem seiner Songs. Aus Anteilnahme ist man fast geneigt, die von den Jungen kultivierte Philosophie der Machos zu entschuldigen. Der Mann wünscht sich Frauen ohne Berechnung. „Abenteuer gehören dazu“, sagt ein Musiker, „damit es nicht langweilig wird.“

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