- | Schweden 2003 | 98 Minuten

Regie: Daniel Lind-Lagerlöf

Ein naiver idealistischer, aber lebensunsicherer junger Pfarrer will in einem tristen Hochhausvorort, der als sozialer Brennpunkt gilt, die Kirche wieder ins öffentliche Bewusstsein rücken. Während seine Versuche spektakulär fehlschlagen, verliebt er sich in eine an den Rollstuhl gefesselte, ebenso selbstbewusste wie zynische junge Frau, was von seinen Eltern als fragwürdiger Amtsmissbrauch getadelt wird. Psychologisch präzise beschreibt der flott und pointiert erzählte Film den Kontakt zwischen den sozialen Klassen, rigide Vorurteilsstrukturen und ihre Beharrungskraft, wobei er zugleich mit großer Ernsthaftigkeit nach der Funktion der Kirche in einer säkularisierten Gesellschaft fragt. (Auch O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MIFFO
Produktionsland
Schweden
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Hägring/Sonet Film/Film i väst/SVT Fiktion
Regie
Daniel Lind-Lagerlöf
Buch
Malin Lagerlöf
Kamera
Olof Johnson
Musik
Paul Bothén
Schnitt
Anders Nylander
Darsteller
Jonas Karlsson (Tobias) · Livia Millhagen (Carola) · Ingvar Hirdwall (Karl Henrik) · Isa Aouifia (Leo) · Robin Keller (Jonny)
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
good!movies (1:1.85/16:9/Dolby Digital 2.0)
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Diskussion
Inzest, Kannibalismus, Rassismus, Körperund Geistesbehinderungen, Sterbehilfe – neuere Filme aus Skandinavien spitzen moralisch- ethische Fragestellungen in schwarzhumorigen Fallstudien bis an die Schmerzgrenze zu. „Miffo“ macht da keine Ausnahme, diskutiert seine Fragen allerdings im passenden Ambiente mit erstaunlicher Ernsthaftigkeit. Der Film fragt: Welche Funktion wächst der Kirche in einer säkularisierten Gesellschaft noch zu? Wie ist es um ihren Personalnachwuchs bestellt? Tobias Carling ist gerade zum Priester ernannt worden, wobei nicht ganz klar wird, warum er sich für diesen Beruf entschieden hat. Über seinen Glauben mag er nicht reden, vielmehr scheinen seine demonstrative Emanzipation vom gutbürgerlich-atheistischen Elternhaus sowie die leicht orientierungslose Bildungsbiografie dahinter zu stecken. Ohne eigene Wohnung und feste Freundin sucht der Endzwanziger eine neue Herausforderung. Tobias wirkt naiv, idealistisch, etwas desorientiert und weltfremd. Vielleicht will er deshalb ausgerechnet in einem tristen Hochhaus-Vorort, der als sozialer Brennpunkt verschrien ist, die Kirche wieder ins öffentliche Bewusstsein rücken. Seine ersten Versuche, sich mit Hausbesuchen vorzustellen, schlagen spektakulär fehl; er wird abgewiesen, verlacht, erniedrigt und beraubt. Beim Gottesdienst bleibt er allein. Nur die resolute, selbstbewusste und zynische Rollstuhlfahrerin Carola, die Tobias routiniert anpumpt, leiht ihm ein Ohr. Zwischen dem unsicheren Pfarrer und der lebenslustigen Kettenraucherin entwickelt sich eine Beziehung, die von seinen Eltern als fragwürdiger Amtsmissbrauch getadelt wird.

Psychologisch sehr präzise und mit Bourdieuscher Schärfe erzählt „Miffo“ vom Kontakt zwischen den sozialen Klassen, von rigiden Vorurteilsstrukturen und deren Beharrungskraft. Tobias muss erkennen, dass seine Ausbildung mit der sozialen Realität nichts zu tun hat. Sein größter Erfolg im Amt ist folgerichtig die Abkehr von den gelernten Formeln während der Trauerfeier für den Geliebten von Carolas Mutter: Der hatte im Leben wenig mehr zu bieten als seine Gutmütigkeit und einen Hang zu platt-obzönem Witz. Als Tobias die Trauergemeinde spontan auffordert, des Verstorbenen durch das Erzählen seiner schlechtesten Witze zu gedenken, gelingt ihm ein Meisterstück praktisch-pragmatischer Seelsorge. Den anderen Konflikten, die aus seiner Affäre mit Carola entstehen, zeigt sich Tobias weniger gewachsen. Er verschanzt sich hinter seinem Amt, geht auf Distanz und kehrt schließlich in die Obhut seiner Familie und seiner Klasse zurück. Die Kirchenbürokratie sieht Tobias’ Scheitern gelassen und verbucht sie unter „wertvolle Erfahrung“.

Der Film findet ausgesprochen subtile Bilder für die Analyse eines oberflächlich funktionierenden Wohlfahrtsstaates, in dem die sozial Deklassierten mit viel Geschick und ohne Skrupel ihre finanziellen Möglichkeiten ausschöpfen. Carola ist für ihren Verlobten Håkan auch deshalb attraktiv, weil sie als Behinderte staatliche Unterstützung erhält; Carola selbst macht bei einem Ladendiebstahl resolut von ihrer Behinderung Gebrauch. Die sozial Deklassierten nehmen sich das, wovon sie glauben, dass „das System“ es ihnen verweigert. Im Gegenzug erkauft sich das bürgerliche Milieu, dem Tobias entstammt, auf diese Weise die Freiheit, nicht mit der sozialen Misere behelligt zu werden. Schon der Wunsch, Priester zu werden, gilt hier als degoutant. „Das Leben ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung!“, sagt Tobias’ Vater einmal. Bei einem Fest rangiert die spöttische Erinnerung an die kommunistische Utopie gleich neben obszöner Kirchenkritik. In dieses festgefahrene soziale System bringt der Pastor frischen Wind, indem er beginnt, auf die Menschen zuzugehen. Persönlich allerdings hat der junge Priester resigniert. Es muss deshalb einiges geschehen, bis er sich entschließt, in der Öffentlichkeit Position zu beziehen. Der Preis, den er dafür zahlt, ist schmerzhaft.

„Miffo“ ist realistisch genug, um die Unmöglichkeit der Liebesgeschichte von Tobias und Carola zu registrieren, auch wenn er sich für ein Happy End entscheidet, dessen widersprüchliche Künstlichkeit nicht zu übersehen ist. Diese Spannung des „Ja, aber“ charakterisiert den Film in mehrfacher Hinsicht: Immer wieder zeigt er die Figuren eingezwängt in die unwirtliche Architektur, wo sie sich – die Kamera sucht extreme Draufsichten – wie Mäuse in einem Versuchslabyrinth bewegen. Dagegen stehen jene kleinen Fluchten, in denen Glückserfahrungen mit ekstatischen Bewegungen gekoppelt werden. Flott und pointiert unterhaltsam erzählt, findet „Miffo“ immer wieder auch zu jenen Ruhepausen des konzentrierten Zwiegesprächs unter Ratlosen, die ihre liebe Mühe haben mit dem, was man Leben nennt.

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