Schiffe aus Wassermelonen

- | Türkei 2004 | 97 Minuten

Regie: Ahmet Ulucay

Ein Junge in einem anatolischen Dorf träumt davon, Regisseur zu werden. Zusammen mit einem Freund und dem Dorfnarren versucht er, aus einem Holzkasten einen Filmprojektor zu bauen, und hält gegen alle Widerstände an seinem Traum vom Kino ebenso beharrlich fest wie an seiner Liebe zu einem Stadtmädchen, das ihn hartnäckig zurückweist. Eine einfühlsame und anrührende Coming-of-Age-Geschichte mit gutem Gespür für den Stoff sowie für die grundlegende Faszinationskraft des Kinos. In seiner Bildsprache arbeitet der Debütfilm geschickt mit natürlichem Licht und fängt eindrucksvoll die karge Landschaft und das Dorfmilieu ein. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
KARPUZ KABUGUNDAN GEMILER YAPMAK
Produktionsland
Türkei
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Istisnai Filmler ve Reklamlar
Regie
Ahmet Ulucay
Buch
Ahmet Ulucay
Kamera
Ilker Berke
Musik
Ender Akay · Alper Tunga Demirel
Schnitt
Mustafa Presheva · Senad Presheva
Darsteller
Ismail Hakki Taslak (Recep) · Kadir Kaymaz (Mehmet) · Gülayse Erkoc (Nezihe) · Boncuk Yilmaz (Nihal) · Fizuli Caferof (Deli Ömer)
Länge
97 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
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Diskussion
"Was uns retten wird, ist das Kino“, glaubt der etwa 15-jährige Recep. Für den vaterlosen Dorfjungen und Schafhirten, der sich als Wassermelonenverkäufer in der nahe gelegenen Kleinstadt über den Sommer bringt, stehen im rückständigen Anatolien der 1960er-Jahre die Chancen für einen sozialen Aufstieg mehr als schlecht; eine Zukunft als Regisseur, wie es sich der Halbwüchsige erträumt, scheint in dieser ärmlichen Umgebung reines Wunschbild zu sein. Doch so unerreichbar sich Receps Berufsziel auch gestaltet: seiner Leidenschaft bei der Verfolgung desselben tut dies keinen Abbruch. Im Gegenteil: Gemeinsam mit seinem Freund Mehmet sowie dem Dorftrottel Ömer bastelt sich Recep einen Filmprojektor, einen durch eine Lampe erhellten Holzkasten, durch den die drei in unermüdlichen Versuchsreihen alte Filmstreifen ziehen. Doch so schnell sie an den ausrangierten Filmschnipseln auch zerren und so locker sie die notwendige Anzahl von 24 Einzelaufnahmen pro Sekunde übertreffen: Die Bilder wollen einfach nicht laufen. Bis die Möchtegern-Filmvorführer die Funktion des Malteserkreuzes entdecken und es ihnen gelingt, die Einzelbilder in Filme zu verwandeln, ist der Sommer vergangen und mit ihm die bittersüße Zeit der ersten großen Liebe. Denn Recep verliert sein Herz an das hübsche, etwas dünkelhafte Stadtmädchen Nihal, das nicht nur um einige Jahre älter ist, sondern vor allem auch kein Hehl aus seiner Verachtung für den mittellosen „Zigeuner“ und die Dorfbewohner macht. Erneut ist es das Unmögliche und vermeintlich Unerreichbare, das Receps Beharrlichkeit und Fantasie herausfordert und zu ungeahnten Hochleistungen antreibt. Je eisiger Nihals Ablehnung, desto heftiger tobt Receps Leidenschaft, desto eindringlicher versucht er sich ihr zu nähern. Die regelmäßigen Rückschläge beeinträchtigen Receps romantische Träumereien ebenso wenig, wie ihn die abergläubische Zerstörungswut seiner Mutter, der immer wieder die „teuflischen“ Filmstreifen zum Opfer fallen, vom Kino abbringen kann. Tatsächlich scheint sich diese Strategie der Beharrlichkeit auf beiden Gebieten auszuzahlen. Nicht zuletzt in dieser Ausdauer zeigen sich die starken autobiografischen Züge des Spielfilmdebüts von Ahmet Ulucay: Der Autodidakt, der in einem anatolischen Dorf aufwuchs und in seiner Jugend Filmvorführgeräte aus Holz baute, realisierte seinen ersten Langfilm erst mit über 50 Jahren. Dass es sich bei „Schiffe aus Wassermelonen“ um ein Debüt handelt, würde man indes nicht vermuten, verfügt Ulucay doch über einen ausgeprägten Stilwillen, der sich vor allem in der eindrücklichen Bildsprache äußert. Souverän setzt er Landschaften und Räume ins Bild, wobei er sich auf die natürlichen Lichtverhältnisse verlässt. Dieses Drehen in authentischer Lichtatmosphäre führte bei Außenaufnahmen zu einem reizvollen Gelbstich, der die in der Sonne brütenden Ebenen, Felder und Straßen auf sehr konkrete und pittoreske Weise real werden lässt. Die Innenaufnahmen hingegen, die meistens nächtliche Szenen einfangen, bilden in ihrer nur von Feuerstellen oder Petroleumlampen erhellten Düsternis archaische Dorfstrukturen oder auch ins Surrealistische und Mythische übersteigerte „Rituale“ ab, etwa die „Hexenküche“, in der Receps Filmschnipsel verbrannt werden. Erleuchtet im konkreten wie im übertragenen Sinn wird diese „mittelalterliche“ Dunkelheit durch Receps Filmexperimente und die schließlich erfolgreichen Filmprojektionen, zu denen vor allem die Dorfjugend strömt. Ähnlich ergiebig wie das natürliche Licht nutzt Ulucay die Mittel des Kinos, wenn er die Figur des verrückten Ömer zum provisorischen, viel zu schnell arbeitenden Filmvorführgerät von Recep und Mehmet mutieren lässt: Der Dorfnarr, der in den filmtechnischen Experimenten der beiden Halbwüchsigen regelmäßig zu einem Teil des Projektors gerinnt, wenn er in Ermangelung einer den Film transportierenden Rolle die Filmstreifen mit enormem Körpereinsatz durch das Vorführgerät zu bewegen hat, steht derart unter dem Eindruck der Tätigkeit, dass er seine Umwelt auch fernab des heimlichen Vorführraums nur mehr durch das „Auge“ des unzulänglichen Filmprojektors wahrnimmt. Überstürzt, holprig, ruckartig, in unregelmäßigem Zeitraffer kommen Ömer – und dem Zuschauer – die Dorfbewohner entgegen; der Dominanz des filmischen Blicks kann sich der Narr am Ende nur mit Hilfe eines epileptischen Anfalls „erwehren“. Derartige Szenen lassen über manche filmische Spielerei hinwegsehen, die übers Ziel hinausschießt und in der sich Form und Inhalt nicht immer glücklich verbinden – wie etwa jene Szene, in der Mehmet Nihal hinterherläuft, um ihr einen Brief von Recep zu überreichen: Es hat zwar Witz, wie Ulucay hier dem Genre-Element der Verfolgungsjagd huldigt, wirkt im Erzählfluss jedoch störend. Eher zusammenshangslos stellt sich der Einsatz abgeschnittener Ohren in der „Hexenküche“ dar, der Assoziationen an Lynchs „Blue Velvet“ (fd 26040) wach ruft, ohne dass Ulucay über Lynchs surrealistische Atmosphäre verfügen würde. Dass er aber ein recht gutes Gespür für die Liebe, die Jugend und das Kino im Allgemeinen hat, das stellt Ulucay mit dieser anrührenden Coming-of-Age-Geschichte deutlich unter Beweis.
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