American Hardcore

Musikfilm | USA 2006 | 100 Minuten

Regie: Paul Rachman

Aktivisten und Wegbegleiter geben kenntnisreich Auskunft über die Entwicklung des "American Hardcore", jenen von allen Glam-Elementen gereinigten Punk-Rock, der seine kurze Blütezeit um die Jahre 1985/86 erlebte. Neben Interviews greift die interessante, rasant montierte Musikdokumentation auf zahlreiche Artefakte der Bewegung zurück, leitet die gesellschaftlichen und politischen Ursprünge dieser Musikrichtung her und unterlegt die Bilder mit einer Vielzahl von Musikbeispielen. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
AMERICAN HARDCORE
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Envision Films/AHC Prod.
Regie
Paul Rachman
Buch
Steven Blush
Kamera
Paul Rachman
Schnitt
Paul Rachman
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Musikfilm | Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Der „Jefferson Airplane“- Sängerin und Hippie-Ikone Grace Slick wird der Satz nachgesagt, wonach diejenigen, die in den 1960er-Jahren wirklich „dabei“ gewesen seien, sich wohl beim besten Willen kaum daran erinnern dürften. Betrachtet man dagegen Paul Rachmans informative Musikdokumentation, ist man einigermaßen erstaunt über die schiere Anzahl der zumeist gutgelaunten und gesunden älteren Herren und Damen, die anekdotisch und durchaus selbstironisch über ihre teilweise länger als 25 Jahre zurückliegenden subkulturellen Eskapaden berichten. Zumal sich diese mitunter als äußerst ungesund erwiesen. Hardcore Punk verstand sich selbst als die verdichtete, elementarere, von allen Glam-Elementen gereinigte Version von Punk-Rock – als „the real thing“. An einer Stelle des Films heißt es bezeichnenderweise, dass die originalen Punkbands in Los Angeles oder New York 1976 Musiker gewesen seien, die Punk als Stilmittel adaptierten, während die zweite Generation von Punks als Dilettanten ihre Instrumente erst nach dem Hören der ersten Punk-Alben erlernten. So erklärt sich wohl auch die eigentümliche Mischung aus Aggression und Energie, die in sehr kurze und sehr schnelle Songs gegossen wurde. Die bekannteren Bands dieser zweiten Generation, also der ersten Stunde von Hardcore waren u.a. D.O.A., Black Flag, Bad Brains, Dead Kennedys, Hüsker Dü, Flipper, Circle Jerks, Minuteman, Minor Threat, Suicidal Tendencies, SS Decontrol, Cro-Mags, Die Kreuzen, Millions Of Dead Cops oder Gang Green. Die Bands agierten zunächst in regionalen Szenen (South L.A., Portland, Minneapolis oder Washington, D.C.); erst allmählich kam es zu überregionalen Vernetzungen, Rivalitäten und legendären, auch gewalttätigen Begegnungen. Interessant sind die historischen Herleitungen für das Auftauchen von Hardcore, die die Akteure von damals aus heutiger Sicht liefern. Die erste Präsidentschaft Reagans wird als Indiz eines umfassenden gesellschaftlichen Backlash begriffen, der darauf abzielte, die im Gefolge der libertinären 1960er-Jahre (Feminismus; Bürgerrechtsbewegung) ins Gleiten geratene alte Ordnung zu restaurieren. Hardcore, so die Protagonisten, reagierte negativ auf die fadenscheinige und retrograde Ideologie des Konsumismus, und zwar mit dem Konzept des Do-it-yourself. Abgelehnt wurden der in der Gesellschaft der frühen 1980er-Jahre vorherrschende Materialismus und auch die propagierte Aufwertung der scheinbar „heilen“ 1950er-Jahre. Neben der politischen Anti-Haltung richtete sich Hardcore ästhetisch gegen den Mainstream-Rock der 1970er-Jahre von Bands wie The Eagles oder Fleetwood Mac. Aus Frustration und Entfremdung schöpfte die jugendkulturelle Rebellion von Hardcore ihre Kraft: „Von Jugendlichen für Jugendliche“, heißt es im Film; Kontakte mit den Majorlabels waren quasi ausgeschlossen. Mit zahlreichen, zumeist eloquenten und auskunftsbereiten Zeitzeugen sowie vielfältigem dokumentarischem Foto- und Filmmaterial rekonstruiert Rachman die kurze Blütezeit von Hardcore bis etwa 1985/86, als die Szene aus verschiedenen äußeren und inneren Gründen implodierte. Hardcore ergab sich der Gewalt und wurde zum Opfer von polizeilicher Willkür; zudem hatten sich die Akteure in ruhelosen Jahren erschöpft und waren wohl auch politisch enttäuscht von der Wiederwahl Reagans. Rachman skizziert den historisch-politischen Hintergrund der Bewegung, beschreibt deren innere Entwicklung von der ästhetisch unbedarften Rebellion hin zu immer größerer Professionalität – wobei der Film musikalisch in der Musik von Flipper, den späten Black Flag und den stets famosen Bad Brains gipfelt und auch nicht mit kritischen Einschätzungen bestimmter Entwicklungen spart. Überraschend für eine derart „negative“ Jugendkultur ist der Umfang der erhaltenen Artefakte, Fotos, Filmaufnahmen, Schallplatten und Poster, mit denen der Filmmacher die vielen Interviews unterfüttert. Man begegnet legendären Typen wie Greg Ginn, Henry Rollins, Mike Watt oder dem sehr reflektierten Sänger der Bad Brains, Paul „H.R.“ Hudson; andere Protagonisten der Bewegung wie Jello Biafra von den Dead Kennedys scheinen sich verweigert zu haben. Insgesamt ist die klar strukturierte, dem Thema entsprechend rasant montierte Musikdokumentation, die auch Themen wie die Rolle von Frauen in dieser Subkultur streift, nicht nur für nostalgische Fans des Genres sehenswert. Denn mögen die meisten Bands auch vergessen sein, die Haltung von Hardcore inspirierte ungleich bekanntere Gruppen wie die Pixies, Nirvana oder die Beastie Boys. Für die US-Bands, die die Musikindustrie mittlerweile als Punk feilbietet, haben die Protagonisten von „American Hardcore“ übrigens nur ein müdes Lächeln übrig.
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