Jugend voran!
Dokumentarfilm | Portugal/Frankreich/Schweiz 2006 | 148 Minuten
Regie: Pedro Costa
Filmdaten
- Originaltitel
- JUVENTUDE EM MARCHA
- Produktionsland
- Portugal/Frankreich/Schweiz
- Produktionsjahr
- 2006
- Produktionsfirma
- Contracosta/Les films de l'étranger/Unlimited/Ventura/RTP/RTSI/arte
- Regie
- Pedro Costa
- Buch
- Pedro Costa
- Kamera
- Pedro Costa · Leonardo Simões · Patrick Lindenmaier
- Schnitt
- Pedro Marques
- Darsteller
- Ventura (Ventura) · Vanda Duarte (Vanda) · Beatriz Duarte (Beatriz) · Gustavo Sumpta (Gustavo) · Antonio Semedo Nhurro (Antonio)
- Länge
- 148 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Im Finale seiner halbdokumentarischen „Fontainhas“-Trilogie dringt der Gespensterfilm in das Werk des portugiesischen Filmemachers Pedro Costa ein.
Aus einem Haus, das wie ein Knast aussieht, werden Dinge aus dem Fenster geworfen: Regale, Stühle und Schubladen, sogar eine Tür. Alles ist in „Colossal Youth“ in Auflösung und im Übergang begriffen.
Ventura, ein Einwanderer von den Kapverdischen Inseln, ist von seiner Frau verlassen worden. Sein Zuhause in Fontainhas, dem Elendsbezirk am Rande von Lissabon, wird es schon bald nicht mehr geben. Der Lärm der Abrissarbeiten schallt durch die dunklen Räume, die meisten Bewohner des Viertels sind bereits fort, umgesiedelt in einen aseptischen Sozialwohnungsneubau mit gleißend weißen Fassaden. Auch Ventura wird bald dort leben. Doch die Wohnung, die man ihm anbietet, ist ihm zu klein. Er brauche „eine Menge Zimmer“ für seine vielen Kinder, sagt er. Seine Kinder, das sind die nun verstreut lebenden Bewohner, die Söhne und Töchter von Fontainhas, aber auch all jene Ausgestoßenen und Marginalisierten, die durch Segregation und Armut über Jahrhunderte hinweg erniedrigt wurden.
Die koloniale Vergangenheit Portugals geistert durch die Orte, Geschichten und Körper. Mit „Colossal Youth“, dem abschließenden Film der „Fontainhas-Trilogie“ – vorangegangen waren die Filme „Ossos“ (1997) und „In Vandas Zimmer“ (2000) –, dringt der Gespensterfilm in das Werk des portugiesischen Filmemachers Pedro Costa ein. Er hat es seitdem nicht mehr losgelassen.
Wände dünn wie Papier
Auf der Suche nach einer Arbeit und einer besseren Zukunft emigrierte Ventura in seinen Jugendjahren nach Lissabon, wo er in den 1970er-Jahren als Maurer das Gulbenkian-Museum mit aufbaute. Wie so viele Einwanderer blieb ihm nicht mehr als ein Leben in bitterer Armut. Die neue Behausung ist nichts als Schein: Wände dünn wie Papier, schlechte Scharniere an den Türen, das Wohnungsschloss klemmt. Ventura bleibt ein Wanderer zwischen den Orten und Menschen, zwischen der Heimat auf den Kapverden und dem Land, das ihn nie wirklich auf- und angenommen hat, zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Auch ein Liebesbrief, den er immer wieder vorliest, wandert wie ein Refrain durch den Film. „Ich wünschte, ich könnte dir 100.000 Zigaretten, ein halbes Dutzend schicke Kleider, ein Auto, das Haus, von dem du immer geträumt hast, und ein Blumenbouquet anbieten“, heißt es darin. Die Monologe und Dialoge – auch sie sind meist monologisch – sind verdichtet und hochstilisiert. Costa entwickelt die Texte stets zusammen mit den Protagonisten; es sind ihre persönlichen Erfahrungen, die in die Filme einfließen.
15 Monate lang hat Costa mit einer kleinen digitalen Kamera gedreht. Die Einstellungen sind lang und statisch, tableauhaft, es herrscht ein Zustand der Halbwachheit und der tiefen Erschöpfung. Das Dokumentarische im Sinne der Aufzeichnung von „authentischer Wirklichkeit“ ist nur noch in Restformen vorhanden. Etwa dann, wenn Ventura die ehemals heroinsüchtige Vanda Duarte besucht, die ihn mit „Papa“ anspricht. Jene Frau, die in „In Vandas Zimmer“ tagaus tagein auf ihrem Bett saß, Crack und Zigaretten rauchte und von Hustenattacken geschüttelt wurde. Inzwischen hat sie eine kleine Tochter bekommen und nimmt Methadon. Vanda sitzt noch immer viel auf dem Bett, das in der neuen Sozialwohnung fast das ganze Zimmer einnimmt, so eng ist es hier; auch der quälende Husten ist ihr geblieben. Sie erzählt von der Geburt ihrer Tochter, die klein wie eine Maus auf die Welt gekommen ist. Von den unglaublichen Schmerzen des Entzugs. Nun will sie das Kind großziehen; danach ist sie bereit zu gehen.
Die Vergangenheit haftet an den Figuren
Der überwiegende Teil des Films spielt in den tiefdunklen Räumen von Fontainhas. Wie Phantome werden die Figuren aus dem tiefen Schwarz des Bildhintergrunds herausmodelliert. „Ich bin für Korridore geschaffen, für Innenräume, darin liegt meine Berufung: im Interieur, im Inneren. Ich brauche Wände, Türen, Gefängnisse…“: So hat Costa einmal sehr treffend die räumliche Architektur in seinen Filmen beschrieben. Man denkt an Höhlen und Kerker, an unterirdische Gänge, es ist eine Unterwelt. Wenn, was selten passiert, ein Lichtstrahl ins Innere fällt, öffnet sich das Bild, ein kurzes Atmen, bevor es sich wieder verschließt. Costas Räume sind wie dichte Gewebe, in denen die Vergangenheit fest eingewachsen ist, sie sind überzeitlich und sie haften an ihren Bewohnern. Die Dunkelheit nehmen sie mit ins Licht ihrer neuen Behausungen.