- | Argentinien/Frankreich 2006 | 85 Minuten

Regie: Santiago Otheguy

Der Besitzer eines Fährboots im Paraná-Delta nördlich von Buenos Aires fühlt sich als eine Art Beschützer der einfachen Inselbewohner und hetzt gegen neue Einwanderer aus Paraguay. Doch auch ein junger Außenseiter, der seine Homosexualität zu verbergen sucht, passt nicht in seine Vorstellungen. Meditatives Filmpoem in Schwarz-weiß, dessen hypnotischer Kamerastil die archaische Flusslandschaft ins Metaphorische transzendiert, wobei die experimentelle Erzählhaltung des Films vieles nur andeutet und nicht ausformuliert. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA LEON
Produktionsland
Argentinien/Frankreich
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Polar Films/Onyx Films/Big World/Morocha Films
Regie
Santiago Otheguy
Buch
Santiago Otheguy
Kamera
Paula Grandio
Musik
Vincent Artaud
Schnitt
Sebastián Sepúlveda · Valeria Ortheguy
Darsteller
Jorge Román (Alvaro) · Daniel Valenzuela (El Turu) · José Muñoz (Iribarren) · Daniel Sosa (Gadea)
Länge
85 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9/Spanisch DD 2.0)
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Diskussion
Eine morgendliche Flusslandschaft in Schwarz-Weiß und CinemaScope: nebelverhangen, unberührt, traumnah. Man hört das Fährboot, noch ehe es in halber Distanz fast diagonal durchs Bild pflügt, eine lärmende Barkasse, deren Bugwellen auch dann noch bedrohlich gegen das Schilf klatschen, wenn sich das Stampfen des Motors in der Ferne verliert. Ein anderes Boot, ein schmaler Kahn, gleitet dagegen wie in Trance durchs mythische Gewässer, still und verhalten, als taste es sich ins Unbekannte vor. Ohne dass ein einziges Wort gefallen wäre, nur durch die nahezu greifbare visuelle Gestaltung dieser Szenen, versteht man intuitiv den angedeuteten Gegensatz, den die Exposition der beiden Steuermänner zusätzlich unterstreicht. Von Turu sieht man nur eine starre, abweisende Rückenpartie, während Alvaro wortlos einer Gruppe zunickt, die am Ufer Holz schlägt, während er sein Gefährt durch die herabhängenden Zweige der Bäume rudert. Zwei Geschwindigkeiten, zwei Welten. Ein halbes Dutzend ruhiger Einstellungen genügt dem in Frankreich lebenden Argentinier Santiago Otheguy, um seine Arbeit als kleine Sensation kenntlich zu machen. Ehe man sich versieht, befindet man sich selbst fast körperlich mitten im Paraná-Delta nördlich von Buenos Aires, einem unübersichtlichen, von der Zivilisation nahezu vergessenen Gewirr aus Inseln und Flussarmen, dessen wuchernde Vegetation nicht nur die räumliche Orientierung erschwert. Die Menschen leben hier von der Hand in den Mund, fischen oder schneiden Schilf für die Korbflechter; Turus titelgebende Fähre „La Leon“ ist für viele die einzige Möglichkeit, mit anderen in Kontakt zu treten. Ihrem Besitzer verleiht dies Macht und Ansehen, die der untersetzte Turu für seine Zwecke ausnutzt. Ihn stören vor allem jene fremden Holzfäller aus dem benachbarten Paraguay, die im Norden des Deltas Fuß fassen; bei jeder Gelegenheit hetzt er gegen die „Misioneros“, da sie angeblich den Zusammenhalt der Einheimischen bedrohen. Der eigentliche Protagonist des Films aber ist Alvaro, ein schweigsamer Einzelgänger, der Bücher restauriert und allein in einem großen Haus am Fluss haust, darauf bedacht, seine Homosexualität geheim zu halten. Auf seinen Streifzügen enthüllt der Film die wuchernde Schönheit des Deltas, aber auch den entbehrungsreichen Alltag der wortkargen Menschen, die bis auf die beiden Hauptdarsteller allesamt von Laien verkörpert werden. Alvaros Eigenheiten ziehen indes auch Turus Ordnungswahn auf sich, der ihn mit einer Mischung aus Neugier und Abwehr zunehmend schikaniert und demütigt. Der erste lange Film von Otheguy lebt von der hypnotischen Kameraarbeit, die in bedrängenden Totalen einen leeren Himmel über die spiegelnde Weite des Wassers spannt, aber mehr noch durch seine plastische Tiefenschärfe für sich einnimmt, obwohl der Film auf HD gedreht wurde. Die Lust und Experimentierfreude, mit der hier das visuelle Vokabular ausgelotet wird, geht mit einer mutigen Erzählhaltung einher, die vieles nur andeutet und nicht ausformuliert. Darunter fällt auch das zentrale Motiv der Abwehr alles Fremden als Resultat unterdrückter oder abgespaltener Emotionen. Vor allem im Falle Turus hat diese eher kursorische Argumentation des Films den Vorteil, dass der angedeutete Zusammenhang zwischen Rassismus und verdrängter Homosexualität nicht zur generellen These umgemünzt, sondern eher als eine individuelle Variante angespielt wird, wenn man die einzelnen Handlungsfäden denn überhaupt auf diese Weise miteinander verbinden will. Ähnlich plausibel ließen sich die Ereignisse nämlich auch herrschaftstheoretisch („divide et impera“) interpretieren oder als Wechselspiel dominanter Gruppen. Denn das Drehbuch macht sich einen Spaß daraus, Turus Idee, das Delta müsse den hier Geborenen gehören, durch die historische Wirklichkeit zu konterkarieren, indem der Betreiber der Dorfbar beispielsweise 1947 aus Deutschland einwanderte. Das größte Plus dieser inhaltlichen Unbestimmtheit aber ist der metaphorische Raum, der dadurch eröffnet wird und allzu konkrete Befragungen wohltuend relativiert; denn die „La Leon“ verbindet ja nicht nur das Delta mit dem Rest der Welt, sondern bietet sich auch als Überfahrt in ein wenn auch nur 85-minütiges Kinoreich an, in dem nicht hämmernde Motoren, sondern das sachte Gleiten durch die Stille den Ton angibt.
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