Das Herz ist ein dunkler Wald

Drama | Deutschland 2007 | 86 Minuten

Regie: Nicolette Krebitz

Durch einen absurden Zufall findet eine junge Mutter heraus, dass ihr Mann ein Doppelleben führt und mit einer Kollegin eine eheähnliche Beziehung nebst gemeinsamem Kind unterhält. Erst auf einem Maskenball ergibt sich die Gelegenheit zur Aussprache, nach der die junge Frau ihr Leben auf denkbar drastische Weise ändert. Der Versuch einer Bestandsaufnahme in Sachen aktueller Geschlechterrollen ist von irritierendem Kunstwillen geprägt und in seiner radikalen Subjektivierung durchaus gewöhnungsbedürftig. Dabei wirft der formal eigentümliche Film jedoch dringliche Fragen zu aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten auf. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
X Filme Creative Pool/NDR
Regie
Nicolette Krebitz
Buch
Nicolette Krebitz
Kamera
Bella Halben
Musik
Dietrich Bergmann (als Fetisch/Meister) · Marco Meister (als Fetisch/Meister) · The Whitest Boy Alive
Schnitt
Sara Schilde
Darsteller
Nina Hoss (Marie) · Devid Striesow (Thomas) · Franziska Petri (Anna) · Marc Hosemann (Jonathan) · Monica Bleibtreu (Mietzi)
Länge
86 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar des Regisseurin.

Verleih DVD
Warner/X Filme (16:9, 1.85:1, DD5.1 dt.)
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Diskussion
Wie ein vielleicht emotional etwas unterkühltes, aber ansonsten durchaus wohlgeordnetes Kleinfamilienleben plötzlich und unvermittelt aus den Fugen gerät, sich anschließend in einer grotesken Schussfahrt buchstäblich in Luft auflöst und auf diesem Weg noch jede Menge Lebenslügen offenbart, zeigt Nicolette Krebitz in ihrem zweiten Spielfilm „Das Herz ist ein dunkler Wald“. Der Tonfall – eine merkwürdige und durchaus gewöhnungsbedürftige Mischung aus „Berliner Schule“- Realismus, Theaterprobe und märchenhaft Surrealem – lässt vermuten, dass es Krebitz um mehr als die Darstellung eines seltsamen Einzelfalls ging; vielmehr zielt sie offenbar auf eine abwägende Bestandsaufnahme in Sachen aktueller Geschlechterrollen ab. Durch einen fast schon absurden Zufall merkt Marie, dass ihr Mann Thomas ein Doppelleben führt. Wenn der Musiker sie und die beiden Kinder am Morgen verlässt, fährt er zu seiner Kollegin Anna, mit der er ebenfalls ein Kind hat. Die beiden Wohnungen sind verdächtig ähnlich eingerichtet. Anna dagegen wusste um Marie, für die jetzt ein Albtraum beginnt, obwohl sie ihre Fassungslosigkeit zunächst immer noch sehr wohl erzogen artikuliert. Die absurde Verdopplung von Thomas’ Leben, der an beiden Frühstückstischen mit den jeweiligen Kindern die selben Späße macht, ist denkbar lakonisch entwickelt und erinnert in ihrer „alltäglichen Mattigkeit“ atmosphärisch ein wenig an „Montag kommen die Fenster“ (fd 37 868). Marie will Thomas zur Rede stellen, doch Gelegenheit dazu bietet sich erst bei einem Maskenball auf einem heruntergekommenen Schloss, wo Thomas und seine Band für die Musik zuständig sind. Die Atmosphäre in den alten Gemäuern ist märchenhaft surreal, lässt an eine kafkaeske Version von „Alice im Wunderland“ denken und wartet mit allerlei skurrilen Figuren und merkwürdigen Begegnungen auf. Erinnerungen an die Heirat von Thomas und Marie mischen sich mit Erzählungen dritter, die vermuten lassen, dass Thomas schon sehr lange ein doppeltes Spiel treibt. Auch Maries Vater Valentin, ein Dirigent, verweigert ihr seine Hilfe und setzt seine Sicht der Dinge schroff gegen ihre. Welchen Traum von „Normalität“ hat sie bloß all die Jahre an Thomas’ Seite geträumt? Marie verliert rasant den Boden unter den Füßen, stürzt sich in ein flüchtiges Abenteuer mit dem Lebemann Jonathan und steht eine Viertelstunde vor Schluss des Films ohne ihre Kleider dar. Buchstäblich nackt, befreit sie sich von ihrem bisherigen Leben auf die denkbar drastischste Weise, indem sie – Medea lässt grüßen! – die Gewalt, die ihr angetan wurde, innerhalb der Familie weiterreicht. Man kann „Das Herz ist ein dunkler Wald“, der mitunter an unangenehm theaterhaft zugespitzte, „besonders wertvolle“ osteuropäische Filmgrotesken der 1960er- und 1970er-Jahre erinnert, überspannt und angestrengt finden. Insbesondere, wenn man sich in Krebitz’ so erfrischend luftigen „Jeans“ (fd 35 644) ausgesprochen wohl gefühlt hat, wiegt der entschiedene Kunstwille und auch die geradezu verschwenderisch prominente Darstellerriege (Nina Hoss, Devid Striesow, Monica Bleibtreu, Günther Maria Halmer, Otto Sander) schwer und bisweilen prätentiös. Mit dem überflüssigen Kurzauftritt von Jonathan Meese als Jesus, der trendigen Musik von The Whitest Boy Alive und der haarsträubend exzentrischen Party auf dem Schloss mit allerlei Cameos der Berliner Szenegrößen durchzieht eine unangenehme Spur von „Mitte-Chic“ diesen eigentlich in einem weniger hippen, leicht muffigen Milieu angesiedelten Film. Andererseits: Lässt man sich auf die Geschichte und ihre radikale Subjektivierung der Erzählperspektive ein, entdeckt man darin nicht nur, wenn auch etwas verklausuliert, reichlich Gesprächsstoff zu Themen wie Familiengründung, postulierter Gleichberechtigung, struktureller Selbstaufgabe und inkongruenter Kommunikation innerhalb „moderner“ Beziehungen, sondern auch einen veritablen Krimi über Realitätsverlust. Schließlich ist Marie gezwungen, sich zu fragen, ob sie ihre eigenen Interessen und Talente nicht vorschnell einem Traum geopfert hat, wann sie aufhörte, sich für Thomas zu interessieren, wann Routine und „Bratwurstigkeit“ in ihr Leben einzogen. Der Entschluss, Kinder in die Welt zu setzen, hat auch etwas mit Verantwortung gegenüber sich selbst zu tun. Wer glaubt, man könne davon unberührt einfach immer so weiter leben, täuscht sich gewaltig. In Zeiten, in denen bald täglich verwahrloste Kinder oder Kinderleichen aufgefunden werden, stellt Krebitz’ Film auf künstlerisch eigentümliche Weise einige ziemlich unangenehme Fragen.
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