Die Entdeckung der Currywurst

Literaturverfilmung | Deutschland 2008 | 108 (TV 90) Minuten

Regie: Ulla Wagner

Hamburg im April 1945: In den letzten Kriegstagen nimmt eine Frau, deren Mann und Sohn im Krieg verschollen sind, einen jungen Marinesoldaten auf. Sie erlebt mit ihm ein intensives Liebesglück, verheimlicht dem Geliebten aber dann die Kapitulation Deutschlands, um die Situation noch etwas länger auszukosten. In der Hauptrolle eindrucksvoll gespielte Verfilmung der Novelle von Uwe Timm als einfühlsamer Unterhaltungsfilm. Zwar übernimmt er nicht die vielschichtige Struktur der Vorlage, findet aber zu einer eigenen linearen Erzählung, wobei er sich vor allem auf die Psychologie der Protagonistin konzentriert. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Tag-Traum Filmprod./Känguruh-Film/NDR
Regie
Ulla Wagner
Buch
Ulla Wagner
Kamera
Theo Bierkens
Musik
Christine Aufderhaar
Schnitt
Corina Dietz
Darsteller
Alexander Khuon (Bremer) · Barbara Sukowa (Lena) · Wolfgang Böck (Holzinger) · Branko Samarovski (Lammers) · Götz Schubert (Gary)
Länge
108 (TV 90) Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Gibt es den Entdecker der Frikadelle? Sind solche Speisen nicht kollektive Leistungen? Speisen, die sich langsam herausbilden, nach der Logik ihrer materiellen Bedingungen, wie es beispielsweise bei der Frikadelle gewesen sein mag: Man hatte Brotreste und nur wenig Fleisch, wollte aber den Magen füllen, da bot sich der Griff zu beiden an und war dazu voller Lust, man musste das Fleisch und das Brot ja zusammenmanschen. Viele werden es getan haben, gleichzeitig, an verschiedenen Orten, und die unterschiedlichen Namen bezeugen es ja auch: Fleischbengelchen, Boulette, Fleischpflanzerl, Hasenohr, Fleischplätzchen.“ So steht es an exponierter Stelle in Uwe Timms Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ – und eben diese Stelle kommt in Ulla Wagners Verfilmung leider gar nicht vor. Ebenso wenig wie die Erzählerfiktion, die doppelte, verschachtelte Erinnerung, die Recherchesituation des ungeduldigen Erzählers, die postmoderne Selbstreferenz, die erzähllogischen Brüche (Bremers verlorener Geschmackssinn) und all die kleinen Abschweifungen und Alltagsbeobachtungen von Timms beeindruckend komplexer Novelle über das Lügen und listige Hinauszögern unangenehmer Wahrheiten. Ulla Wagner, die auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, hat sich für ein konzentriertes psychologisches Kammerspiel entschieden, will eine ungewöhnliche, aber gar nicht mal unwahrscheinliche Liebesgeschichte erzählen. Hamburg, im April 1945. Das Nazi-Regime liegt in den letzten Zügen, will sich aber durch Volkssturm und Totalmobilmachung noch dafür rächen, dass sich die Deutschen wieder einmal als zu schwach für die Welteroberung gezeigt haben. Hamburg ist zur Festung erklärt worden und soll bis zum letzten Mann verteidigt werden, während die Alliierten die Stadt fast ununterbrochen bombardieren. Wenn das Staatswesen sich allmählich auflöst, so erzählt es jedenfalls der Film, wächst der individuelle Handlungsspielraum. Die nicht mehr ganz junge Lena Brückner, herausragend gespielt von Barbara Sukowa, arbeitet als Leiterin einer Kantine und lernt abends vor dem Kino den jungen Matrosen Hermann (sehr fesch: Alexander Khuon) kennen, den sie mit nach Hause nimmt, als der nächste Luftangriff die Wochenschau beendet. Lenas Mann Gary, ein Tunichtgut und Schlawiner, sowie Lenas Sohn sind an der Front verschollen. Hermann nimmt das Angebot der Frau an, desertiert und versteckt sich in ihrer Wohnung. Es beginnt eine handfeste Liebesgeschichte wider die Zeitumstände, fröhlich, spontan und in jeder Hinsicht subversiv. Noch glaubt nicht nur der Blockwart an den „Endsieg“, noch werden in Betrieben Propaganda-Reden gehalten, doch die größte Gefahr für diese Beziehung geht vom Frieden aus. Bremer hat Lena verschwiegen, dass er verheiratet und Vater eines kleinen Kindes ist, doch Lena entdeckt ein Foto der jungen Familie. Als der Krieg zu Ende geht, beschließt sie, ihr kurzes Glück durch Schweigen etwas zu verlängern, während Hermann schon vom nächsten Kriegszug gen Osten zu träumen beginnt. Die kleine Wohnung, zuvor das Refugium der Liebenden, wird zum Gefängnis, während draußen vor der Tür die Karten gar nicht so neu gemischt werden. Als Lena, schockiert von den Bildern aus den KZs und abgestoßen von Hermanns Kriegsfantasien, dann doch die Kapitulation des Deutschen Reichs berichten muss, bedeutet dies das Ende der Beziehung. Hermann verschwindet, wie er gekommen ist, doch die Energie, die Lena aus dieser Begegnung gezogen hat, reicht immerhin, um sich auch nach der Rückkehr des untreuen Ehemanns die Unabhängigkeit zu sichern. Auch die titelgebende „Entdeckung der Currywurst“ ist Reflex der befreienden Energie der „unmöglichen“ Liebesgeschichte zwischen Lena und Hermann, funktioniert doch die Kombination zweier Dinge, die eigentlich nicht zusammenpassen, tatsächlich ganz gut: „Trümmer und Neubeginn, süßlichscharfe Anarchie“ (Uwe Timm). Im Gegensatz zur literarischen Vorlage gestattet sich der Film die konventionell melodramatische „cloture“ einer letzten Begegnung der einst Liebenden vor Lenas Currywurstbude. Die reizvolle, auf mehreren Ebenen reflektierte und verschränkte Struktur von Timms Novelle konnte und wollte Ulla Wagner nicht verfilmen. Ihre konsequent vereinfachende Zurichtung der Vorlage zu einer vergleichsweise linearen Erzählung, die sich ganz auf die Psychologie der Protagonistin vor etwas kulissenhaft ins Bild geschobenem Zeitkolorit konzentriert, macht aus „Die Entdeckung der Currywurst“ einen unterhaltsamen Wohlfühlfilm gehobenen Niveaus. Freilich hat man dabei etwas zu häufig das Gefühl, alles schon einmal gesehen zu haben, zum Beispiel als „Die Ehe der Maria Braun“ (fd 21 181) von Rainer Werner Fassbinder, zu der „Die Entdeckung der Currywurst“ problemlos als Prequel durchgehen würde. Erzählt allerdings mit den Mitteln und Limitationen eines allenfalls moderat ambitionierten Fernsehspiels, das kein dramaturgisches Zugeständnis an den Zuschauer scheut.
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