Was will ich mehr

- | Italien/Schweiz 2010 | 124 Minuten

Regie: Silvio Soldini

Eine Frau und ein Mann beginnen eine Affäre, die mit ihren bisherigen Lebensentwürfen kollidiert. Da sie ihre jeweiligen Partner aber nicht verlassen wollen, setzt ein von Lügen gezeichneter "Passionsweg" ein. Mehr als auf die Liebe fokussiert der Film auf die privaten wie beruflichen Rahmenbedingungen sowie auf die "Kollateralschäden", die ihre Leidenschaft hinterlässt. Eine genaue, aber auch spröde Studie, die ihre Figuren durch einen zunehmend destabilisierten Alltag begleitet; der Film leidet allerdings darunter, dass er die Gefühle als Movens der Handlung mehr behauptet als nachvollziehbar inszeniert. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
COSA VOGLIO DI PIÙ
Produktionsland
Italien/Schweiz
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Lumière & Company/Vega/RSI.Radiotelevisione Svizzera
Regie
Silvio Soldini
Buch
Silvio Soldini · Doriana Leondeff · Angelo Carbone
Kamera
Ramiro Civita
Musik
Giovanni Venosta
Schnitt
Carlotta Cristiani
Darsteller
Alba Rohrwacher (Anna) · Pierfrancesco Favino (Domenico) · Teresa Saponangelo (Miriam) · Giuseppe Battiston (Alessio) · Fabio Troiano (Bruno)
Länge
124 Minuten
Kinostart
09.12.2010
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
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Diskussion
Ein Küchenmesser ist das Objekt, durch das Anna und Domenico sich kennen lernen. Es bleibt aus Versehen nach einer Feier an Annas Arbeitsplatz liegen. Domenico, der bei einem Catering-Service arbei‧tet und fürs leibliche Wohl der Gäste gesorgt hat, will es später abholen; Anna kommt an die Tür, um es ihm zu geben – und der Funke springt über. Die Wahl des symbolträchtigen, scharf schneidenden Utensils ist kein Zufall, verweist (vielleicht etwas überdeutlich) vielmehr auf den gefährlichen Charakter dieser „verhängnisvollen Affäre“. Denn sowohl Anna als auch Domenico sind nicht frei, sondern leben in festen Partnerschaften; Domenico ist obendrein Vater. Trotzdem tauschen die beiden Telefonnummern aus, verabreden sich, schlafen miteinander, werden einander unentbehrlich. Das Motiv des Ausbrechens oder Herausfallens aus stabilen Beziehungen zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk von Silvio Soldini. In „Brot und Tulpen“ (fd 34 632) und „Agata und der Sturm“ (fd 36 829) wurde es in vorwiegend heiteren Tönen als letztlich positive Befreiung und Vitalitätsschub gefeiert, in „Tage und Wolken“ (fd 38 933) nahm es eine dunklere Färbung an. Hier ging es weniger um die freien Gestaltungsmöglichkeiten des Individuums als vielmehr um den Rahmen, den die sozialen Gegebenheiten abstecken: Der gesellschaftliche Absturz eines wohlhabenden Paares durch die plötzliche Arbeitslosigkeit des Mannes bedingte eine Entfrem‧dung der Eheleute und eine (erzwungene) Umorientierung. Dieses Gebundensein der Gefühle, des Persönlichsten und Intimsten, ans Soziale spielt auch in „Was will ich mehr“ eine zentrale Rolle: Es geht nicht um das große Gefühl in dem romantischen Schutzraum, den ihm das Kino sonst so gerne bietet, sondern um seine konkre‧te Lebbarkeit innerhalb der Strukturen, aus denen die gesellschaft‧liche Existenz besteht: Familie, Freundeskreis, Beruf, materielle Verhältnisse. Visuell geht das damit einher, dass die bunten Settings von Soldinis früheren Filmen blasseren, trüben Tönen weichen; wie in „Tage und Wolken“ evoziert die Bildgestaltung das Gefühl von Beengtheit. Die Dramaturgie wird nicht von klassischen Spannungsbögen getragen, sondern taucht geduldig in den Alltag der beiden Hauptfiguren ein. Bevor sie sich kennen lernen, erhält man einen gründlichen Einblick in ihre Verhältnisse; nachdem sie sich begegnet und einander verfallen sind, erlebt man mit, wie dieser Alltag peu à peu aus den Fugen zu geraten droht, während sich die Liebenden mit zunehmend quälenderen Fragen beschäftigen: Wo trifft man sich zum Stelldichein, wenn die eigenen Wohnungen nicht genutzt werden können, da man sie mit einem Lebenspartner teilt? Welches Hotel wählt man, wenn das Budget begrenzt ist? Wie schaufelt man in einem mit Job- und Familienpflichten vollgepackten Tagesab‧lauf die Zeit frei, um sich sehen zu können, mit welchen Lügen tarnt man die Treffen? Und wie schafft man es dabei, nicht auch noch den letzten Rest an Selbstachtung und Integrität einzubüßen? Soldini verkehrt die optimistischen Neubeginn-Fantasien seiner früheren Filme ins Gegenteil, fokussiert auf die Zerstörungen statt auf die verlockenden Aussichten: Mit dem gegenseitigen Begehren tritt etwas Neues ins Leben von Anna und Domenico, jedoch ist das Dasein der Thirtysomethings längst eingerichtet, sodass für dieses Neue kein Platz ist, ohne das Alte aufzusprengen. Für diese radikale Lösung entscheiden will sich weder Anna noch Domenico – beide waren vor dem gegenseitigen Kennenlernen nicht unglücklich in ihren Partnerschaften und fühlen sich diesen zu sehr verpflich‧tet, um den Bruch zu wollen. Doch können sie voneinander lassen? Diese Frage hat hier nichts Sentimentales: Liebe als Passion meint einen wirklichen Leidensweg, eine Tortur für alle Beteiligten, und noch dazu eine ohne jede Grandezza, sondern voller Schäbigkeit. Für den Film erweist sich das als zweischneidiges Schwert: Einerseits ist Soldinis nüchterner Erzählstil erstaun‧lich konsequent, fordert aber andererseits nicht nur den Figuren, sondern auch dem Zuschauer viel Leidensfähigkeit und Zähigkeit ab. Während der Schwerpunkt darauf liegt, wie das neue Begehren den gewohnten Alltag sabotiert, entfaltet sich das Miteinander von Domenico und Anna fast nur in Szenen, die das Paar beim flüchtig-leiden‧schaft‧lichen Beischlaf zeigen; die Inszenierung bringt die Sexszenen jedoch nicht so zum Sprechen, wie es etwa in „Intimacy“ (fd 34 894) oder in Louis Malles „Verhängnis“ (fd 29 975) der Fall war, sodass sie letztlich zu wenig über die Liebe der beiden erzählen. Deren Wucht und Dringlichkeit lässt sich kaum nachvollziehen. Insofern hängt die gnadenlose, durchaus eindrückliche Chronologie der Kollateralschäden, die der Seitensprung nach sich zieht, erzählerisch ein Stück weit in der Luft.
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