Ein Junge namens Titli

Drama | Indien 2014 | 128 Minuten

Regie: Kanu Behl

In den Slums von Delhi versucht ein junger Mann, dem kleinkriminellen "Familienunternehmen" seiner Brüder zu entkommen. Diese bemerken seine Emanzipationsversuche; eine Verheiratung soll ihn wieder fester an die Familie binden. Doch die junge Braut erweist sich als willensstarke Person, mit der sich gemeinsame Sache machen lässt. Zwischen Neo-Noir und Neorealismus entwirft der Film das Porträt eines jungen Mannes, der seinen Wurzeln entkommen will, dann aber doch eingeschliffene Verhaltensmuster fortsetzt. Damit einher geht ein kritisches Gesellschaftsbild, das umfassende Korruption und tiefsitzende Gewaltstrukturen anprangert. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
TITLI
Produktionsland
Indien
Produktionsjahr
2014
Produktionsfirma
Dibakar Banerjee Prod./Yash Raj Films
Regie
Kanu Behl
Buch
Kanu Behl · Sharat Katariya
Kamera
Siddwarth Diwan
Musik
Karan Gour
Schnitt
Namrata Rao
Darsteller
Shashank Arora (Titli) · Lalit Behl (Daddy) · Shivani Raghuvanshi (Neelu) · Ranvir Shorey (Vikram) · Amit Sial (Pradeep)
Länge
128 Minuten
Kinostart
28.05.2015
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Raues Crime-Drama aus Delhis Slums

Diskussion
Neelu, die junge Frau der Titelfigur, findet den Namen ihres frisch Angetrauten seltsam. „Titli“ bedeutet Schmetterling. Wie er zu diesem Namen gekommen sei, will Neelu wissen. Seine Mutter habe sich eigentlich ein Mädchen gewünscht und einen entsprechenden Namen ausgesucht, erläutert er. Neelu findet den Namen auf komische Weise unpassend; die zarten, schönen Insekten mit dem rauen, wortkargen, ihr gegenüber öfters aggressiven jungen Mann zu assoziieren, liegt ja auch nicht nahe. Irgendwie passt er aber doch – nur ist Titli sozusagen noch im Raupenstadium. Sich verpuppen und verändern, ein neues, besseres Leben anzufangen: das ist das, wonach Titli sich sehnt. Sein Zuhause ist für ihn die Hölle. Als jüngster von drei Brüdern ist er Teil eines „Familienunternehmens“, das aus kleinen, brutalen Raubüberfällen besteht; geleitet wird es auf tyrannische Weise von Titlis ältestem Bruder Vikram, während der Vater als stille Kontrollinstanz im Haus wacht. Eine Möglichkeit, das alles hinter sich zu lassen, könnte die Investition in ein Parkhaus sein, das gerade zusammen mit einer neuen Mall am Rande Delhis aus dem Boden gestampft wird. Dazu braucht Titli Geld, und es zu beschaffen, ist die Aufgabe, die ihn im Lauf des Films umtreibt. Seine Brüder, die merken, dass Titli sich von ihnen zu lösen versucht, wollen ihn enger an die Familie binden, indem sie eine Frau für ihn aussuchen. Doch die junge Neelu entpuppt sich, ihrer sanft-zurückhaltenden Art zum Trotz, als willensstarke Person mit eigener Agenda; die Kriminalität ihrer neuen Familie stößt sie ab. So wird sie zur unerwarteten Verbündeten Titlis: Er soll ihr helfen, mit ihrem Geliebten zusammenzukommen, sie will ihm im Gegenzug Geld geben. Dem ersten Spielfilm von Kanu Behl ist anzusehen, dass Behl sich vorher als Dokumentarfilmer betätigt hat: „Titli“ hat etwas von einer Feldstudie aus einem Delhi, in dem die soziale Kluft zwischen Boomtown und Slum bedrohlich wächst; mehr als um das Vorantreiben des Plots geht es ums genaue Beobachten von Menschen und Lebensumständen. Klare Gut-Böse-Schemata kristallisieren sich dabei nicht heraus, wohl aber ein Klima, das förmlich verseucht ist von Aggressivität und Korruption – und dabei höchst ansteckend: Während Titli alles daransetzt, sich von seiner Familie zu emanzipieren, tritt er doch immer mehr in die brutal-egoistischen Fußstapfen des älteren Bruders. Behl inszeniert das so, dass es wie raues Independentkino aussieht, d.h. völlig anders als das, was man mit dem Begriff „Bollywood“ verbindet; tatsächlich wurde sein Film aber mitproduziert von Bollywood-Mogul Aditya Chopra und seiner Yash Raj Filmproduktion, in Kooperation mit Independent-Filmemacher Dibakar Banerjee – ein deutliches Signal, dass ein junges Kino, dass der sozialen Realität verpflichtet ist, in Indien einen wachsenden Stellenwert verbuchen kann. Zwischen Neo Noir und Neorealismus, mit einem Cast, der zu einem guten Teil aus Laien besteht, zeichnet Behl mit seinem wunderbaren Hauptdarsteller Shashank Arora nicht nur ein intensives Porträt eines „angry young man“, sondern auch ein vielschichtiges Gesellschaftsporträt: Das Verhältnis zwischen sozialen Schichten wird dabei genauso in den Blick genommen wie das zwischen den Generationen und nicht zuletzt zwischen Männern und Frauen. Die Gewalt, die dabei auf allen Ebenen eine Rolle spielt, lässt Behl in Szenen kulminieren, die zwar nicht sonderlich drastisch-explizit inszeniert sind, jedoch so nahe an den Figuren, dass man sich beim Zuschauen förmlich wegkrümmen will – wenn Titli z.B. an einer Stelle seine Frau Neelu dazu nötigt, zuzustimmen, dass er ihr mit einem Hammer die Hand bricht, um es ihr unmöglich zu machen, eine Unterschrift zu leisten. So düster das Bild auch ist, das Behl dabei entwirft, eröffnet er Titli am Ende doch noch eine Chance, das in seinem Namen mitschwingende Versprechen auf Verpuppung und Veränderung einzulösen: In einer Szene kotzt sich Titli förmlich die Seele aus dem Leib vor Abscheu, als ihm die Selbsterkenntnis dafür kommt, dass sein Handeln ihn mehr und mehr zu einem Mann werden lässt, der er eigentlich nie sein wollte. Ein Tiefpunkt, der in sich aber die Hoffnung auf einen Wendepunkt trägt: Noch könnte Titli einen anderen Weg einschlagen als seine Brüder. Titli wagt schließlich die ersten Schritte.
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