Wenn der Schriftsteller Stephan Hermlin einst über Konrad Wolfs „Ich war neunzehn“ schrieb, dass dieser Film „unter allen Kriegsfilmen der am meisten beredte und der verschwiegenste“ sei, so gilt das in ähnlichem Maße für „Bohnenstange“ von Kantemir Balagow. Der 1991 geborene russische Regisseur, der in einem Regieworkshop von Alexander Sokurow ausgebildet wurde, legt damit seine zweite lange Arbeit vor, und sie ist ein Ereignis.
„Bohnenstange“ spielt zwar Monate nach dem Großen Vaterländischen Krieg, doch die Wunden, die der brutale Überlebenskampf hinterließ, sind allgegenwärtig. Balagow braucht dafür keine zerborstenen Häuser, keine Ruinenfelder oder Bombentrichter. Die Kamera von Xenija Sereda forscht in den Gesichtern der Menschen, in ihren Augen, auf ihren Händen. In den Blicken, den Körperhaltungen, im Wechselspiel von Nähe und Distanz, Anziehung und Abstoßung entdeckt sie Spuren des Leids, der Verzweiflung, des Todes. Und Funken der Hoffnung. Die unbezwingbare Gier nach Leben. „Zieh Dich an. – Wohin? – Zum Tanz“, heißt es einmal im knappen Dialog.
Ein Krampf, wie aus dem Nichts
Es ist Herbst 1945 in Leningrad, jener Stadt, die 871 Tage der Belagerung durch die deutsche Wehrmacht ausgesetzt war, einem versuchten Genozid an der russischen Zivilbevölkerung. Die hochgewachsene Ija (Viktoria Miroschnitschenko), die alle nur „Bohnenstange“ nennen, lebt mit dem kleinen Paschka in einer Gemeinschaftswohnung. Aus dem Krieg, aus dem sie vorzeitig entlassen wurde, hat sie Anfälle von Schockstarre mitgebracht: ein Krampf, der plötzlich, wie aus dem Nichts, ausbricht, wobei Ija die Töne ihrer Umgebung nur noch aus weiter Ferne wahrnimmt; ein Vorgang, den der Film akustisch rekonstruiert. Bei einem dieser Anfälle kommt der Junge ums Leben. Ija, die gerade noch mit ihm tobte, erdrückt ihn unter ihrer Last. Ein Unfall.
Wenig später wird deutlich, dass es nicht ihr eigenes Kind war, sondern das von Mascha (Wasilisa Pereligina), einer Kriegskameradin und Freundin, vielleicht einer Geliebten. Einmal zeigt die Kamera Maschas nackten Bauch, die Großaufnahme einer riesigen Narbe. Aber es ist nicht nur diese Narbe, die Mascha aus dem Grauen des Krieges, aus ihren Einsätzen bei der Flugabwehr mitgebracht hat, sondern auch die Unmöglichkeit, noch einmal ein Kind zu bekommen. Ein Kind, nach dem sie sich so sehr sehnt, um weiterleben zu können. Aus dieser Sehnsucht entsteht der Plan, dass Ija ein Baby für sie austragen könnte.
Der Geschmack einer Papyrossy
Die Beziehung beider Frauen steht im Zentrum des Films, doch zugleich weitet Balagow den Blick auf eine Gesellschaft, die dem letzten Kreis der Hölle zwar entkommen, von einem Glückszustand aber weit entfernt ist. Siegesparaden finden in diesem undramatischen, lakonisch-leisen Drama nicht statt. Dafür bricht immer wieder die Erinnerung ans Grauen herein. Ija arbeitet in einem Militärhospital für schwer versehrte Kriegsheimkehrer. In einer Szene spielen die Patienten mit dem kleinen Paschka, imitieren Tiere, die der Junge erraten soll. Doch einen Hund vermag das Kind partout nicht zu erkennen, es hat nie einen gesehen; alle Hunde waren in den Leningrader Hungerwintern als Nahrung auf dem Tisch gelandet. Der kluge, von tiefer Traurigkeit und Müdigkeit gezeichnete Arzt (Andrej Bykow) findet in Ija eine Vertraute, die Patienten, die nicht mehr leben wollen, eine Giftspritze verabreicht: Ija, der Todesengel mit langen blonden, fast weißen Haaren. Es gibt kein zärtlicheres Bild als jenes, in dem Ija einem Sterbenden auf dessen Wunsch den Rauch einer Zigarette in den Mund bläst, ein Kuss besonderer Art. Der Mann hat im Krieg beide Beine verloren, seine Frau weiß nicht, wie sie ihn und die Kinder durchbringen soll; der Geschmack einer Papyrossy ist Ijas letzter Gnadenakt.
Dieser Zartheit setzt Balagow die Eiseskälte einer anderen Frau gegenüber, einer hochrangigen Genossin (Xenia Kutepowa), deren schüchterner Sohn sich in Mascha verliebt und sie eines Tages in die Villa der Eltern mitnimmt. Der Kontrast zwischen den vollbesetzten Räumen der Gemeinschaftswohnung, dem Hospital oder des Badehauses und diesem in einem Park gelegenen Prachtbau spricht Bände. Unbarmherzig fertigt die Vertreterin der Partei-Nomenklatura die einstige Soldatin Mascha ab, die gerade noch auch für ihr Überleben gekämpft hatte. Jeder Satz ist ein Stich mit dem Messer. Von der viel beschworenen sozialistischen Menschengemeinschaft keine Spur; von Humanität schon gar nicht. Die Verlogenheit und Verderbtheit des stalinistischen Systems, das die alten Klassenschranken durchaus nicht abgeworfen und den Graben zwischen Oben und Unten keineswegs zugeschüttet hatte, entlarvt sich im Film durch einen einzigen kammerspielhaften Dialog. Intensität durch Verknappung.
Der Frieden muss erst noch gewonnen werden
Kantemir Balagow hat in „Bohnenstange“ nichts dem Zufall überlassen, nicht die Tongestaltung, die auf eine herkömmliche Filmmusik als Gefühlsträger verzichtet, nicht die Farbdramaturgie. „Bohnenstange“ ist über weite Teile ein Nachtfilm, wobei die Interieurs oft in warme braune Töne getaucht sind. Am Ende umarmen sich Mascha und Ija, das grüne Kleid und der rote Pullover leuchten aus der Dunkelheit. Niemand weiß, ob die Heilung der Seelen gelingen wird. Der Krieg ist vorbei. Der Frieden muss gewonnen werden. Es bleibt eine Zuversicht.