Krimi | Japan 2019 | 151 Minuten

Regie: Sion Sono

Ein wilder Flickenteppich aus Genre-Versatzstücken aus dem erzählerischen Kosmos des japanischen Regisseurs Sion Sono: Zwei junge Frauen, von denen nach einer enttäuschten Liebe eine in der Promiskuität, die andere in der Isolation ihr Heil gesucht hat, geraten an einen sadistischen Trickbetrüger, Heiratsschwindler und angeblichen Serienmörder. An diesem ist außerdem ein junges Filmemacher-Team interessiert, das einen Film über ihn drehen will. Mit überlebensgroß ausgespielten Gefühlsexzessen und dramatischer Lichtstimmung präsentiert der Film eine von plötzlichen Wendungen und Transformationen angetriebene Tour de force zwischen Schein und Sein, deren (selbst-)kritischer Auseinandersetzung mit japanischer Medienkultur mitunter allerdings der aktuelle Biss abgeht.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
AI-NAKI MORI DE SAKEBE
Produktionsland
Japan
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Netflix
Regie
Sion Sono
Buch
Sion Sono
Kamera
Sôhei Tanikawa
Musik
Kenji Katoh
Darsteller
Kyoko Hinami (Taeko) · Eri Kamataki (Mitsuko) · Kippei Shiina (Joe Murata) · Shinnosuke Mitsushima (Shin) · Takato Yonemoto (Goto)
Länge
151 Minuten
Kinostart
-
Genre
Krimi | Psychothriller
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Diskussion

Dass aus Sion Sonos Serienprojekt für Netflix – „The Forest of Love“ –  letztlich ein langer Film geworden ist, sollte nicht weiter überraschen. Auch etwa „Love Exposure“ und „Tokyo Vampire Hotel“ existieren in einer Kino- und einer Serienversion.  Die Filme des Regisseurs waren schon immer so kolossale wie unstete Ansammlungen von verschiedensten Momenten, Figuren und Handlungssträngen, von Ideen, Träumen und alternativen Wirklichkeiten. Wildwuchernde Gewächse, unterschiedlich stark zusammengestutzt. Selten besonders stringent, jede Lücke voll popkulturellem Treibgut. Von jedem könnte eine Version von 90 Minuten oder sechs Stunden Länge existieren.

Die kürzesten unter Sion Sonos Arbeiten verweisen immerzu nach Außen, auf das, was ihrem Blick entgeht: Die Welt als Ganzes, die größeren Zusammenhänge, Vergangenheit und Zukunft. Die Längsten drängen von außen auf ihren Kern: Familien, Ersatzfamilien und Beziehungen. „The Forest of Love“ basiert lose auf wahren Begebenheiten und positioniert sich zwischen diesen Extremen. Der Hybrid aus Drama, Kriminalthriller, Horror und Komödie führt vor Augen, wie sehr der stürmisch arbeitende Regisseur mittlerweile zu seinem eigenen Bezugssystem geworden ist. In jeder Figur erkennt man einen Widergänger, jedes Versatzstück der Geschichte ist ein Echo. Erzählt wird auf verschiedenen Zeitebenen. Im Jahr 1985 sind Taeko (Kyôko Hinami) und Mitsuko (Eri Kamataki) Klassenkameradinnen und gute Freunde. Gemeinsam spielen sie in einer Theatergruppe, inszeniert wird „Romeo und Julia“ mit vollständig weiblicher Besetzung. Beide verlieben sich in die Darstellerin des Romeos, beide tragen durch diese Beziehung erhebliche emotionale Wunden davon. Die junge Frau verfolgt sie in ihren Träumen.

Enttäuschte Liebe, ein Heiratsschwindler & ein enthusiastisches Filmteam

Jahre vergehen. Taeko sucht Trost in den Armen immer neuer Partner, Mitsuko zieht sich in ein Leben als Eigenbrötlerin zurück. Eines Tages drängt sich der sadistische Trickbetrüger und Heiratsschwindler Joe Murata (Kippei Shiina), der es auf ihr Erbe abgesehen hat, in ihre Isolation. Taeko, die bereits erlebt hat, welchen Schaden er Familien zufügt, versucht ihn von ihr abzubringen. Sie vermutet ihn auch hinter einer langanhaltenden Serie von Morden. Verkompliziert wird die Situation durch eine Gruppe junger Filmemacher rund um den schüchternen Shin (Shinnosuke Mitsushima), die durch Taeko auf den charismatischen Betrüger aufmerksam werden. Kurzerhand entschließen sie sich, einen Film über ihn zu drehen – Shin soll Murata spielen.

Eine Sammlung von Themen und Figuren also, mit der Sono bestens vertraut ist. Shin und seine Freunde erinnern an das begeisterte Filmteam aus „Why Don’t You Play in Hell?“ oder die voyeuristischen Fotografen aus „Love Exposure“, der gruselige Murata an den Killer in „Cold Fish“, der Zwiespalt zwischen Mitsuko und Taeko an „Antiporno“, ihr jugendlicher Freundeskreis an „Tag“ und „Suicide Circle“, einige musikalische Momente an „Love & Peace“. „The Forest of Love“ folgt einer modularen Logik, theoretisch autarke Bauteile ergeben ein uneinheitliches Ganzes. Jede kurze Rückblende könnte ein eigener Film sein. Man spürt, wo die Versatzstücke zusammengeleimt wurden. Hier eine Kapitelmarke, dort ein Voice-over – ein rechter Flickenteppich. Doch störend sind diese Brüche nie. Sono nimmt eben lieber Umwege, als stur dem vorgegebenen Pfad zu folgen.

Tränen und Blut fließen literweise

Grundmodus bleibt das Melodrama, immer an der Grenze zwischen intensiv und schrill. Zum ersten emotionalen Wortgefecht (Schreien, Weinen und über den Boden wälzen inklusive) kommt es nach etwa zehn Minuten Spielzeit. Wieder und wieder schwingen sich die Figuren zu überlebensgroßen Gesten auf. Tränen und Blut fließen literweise. Keine Empfindung, die nicht mit aller Kraft ausgestellt werden müsste. Exzess und Eskalation brauchen oft nicht einmal einen klaren Auslöser im Drehbuch, sondern genügen sich beinahe selbst. Sie sind Effekte, die mitreißen und involvieren und dabei auch dem Realitätsgefüge Kratzer versetzen. Die Emotionen sprengen in ihrer Größe den Rahmen. Oft wirkt es, als würde man einer Schauspielübung beiwohnen, die außer Kontrolle gerät. Oder besser: vom Regisseur außer Kontrolle gebracht wird.

Begleitet werden solche Momente von dramatischen, irrealen Lichtstimmungen. Wenn Taeko emotional am Boden ist, kauert sie einsam auf einer dunklen Straße, umhüllt von einem grellen Scheinwerfer, durch den sie wirkt, als würde sie gerade von einem Ufo entführt. Während Streitgesprächen rückt die Kamera oft nah an die Figuren. Wenn sich alles überschlägt, wird kaum mehr geschnitten, sondern oft einfach zwischen den Gesichtern hin- und hergeschwenkt. Die Energie des Films drängt also auch in einfache Dialoge hinein, die eine ganz eigene Dynamik bekommen.

Nichts ist, wie es scheint – aber alles wird so

Der bösartige Joe Murata ist vor allem ein großer Aufschneider. Frauen erzählt er, er hätte in Harvard studiert (natürlich mit summa cum laude), die Songs ihrer Lieblingsbands als Ghostwriter geschrieben oder würde für die CIA arbeiten. Mit seinen Schlagersongs verzaubert er ganze Säle – Szenen, die irreal wirken, selbst wenn sie ganz offensichtlich nicht nur in seiner Fantasie stattfinden.

Mit jedem Zweifel geht er offensiv um, jede Kritik verschiebt er mühelos ins Reich der Fiktion. Taeko sieht in ihm einen Serienmörder, also beschießt er sie mit Plastikpfeilen aus einer Spielzeugpistole und ersticht sie spielerisch mit einem Theatermesser. Nur, um sie kurz darauf tatsächlich mit Elektroschocks zu foltern. In „The Forest of Love“ hängen Repräsentation und Realität oft unmittelbar zusammen, sie bedingen einander geradezu. Aus der Vermutung, Murata wäre ein Serienmörder, entsteht ein Film über seine Eskapaden, der ihn in seiner Entstehung wiederum zu neuen Taten drängt. Nichts ist, wie es scheint – aber alles wird so.

Murata reißt die Kontrolle über den Film an sich und wird selbst zum Regisseur. Shin und er stehen sich Auge in Auge – der tatsächliche Mensch und die Figur, die ihn repräsentiert – und wiederholen immer wieder dieselbe Zeile. Der Regisseur konfrontiert fiktive Figuren mit ihrem Ursprung und weicht die klare Trennung zwischen ihnen auf. „Das Kino ist Leben, und das Leben ist Kino“, erklärt Murata den Filmbegeisterten, zu deren Anführer er sich aufschwingt. Er stachelt sie zu Gewalt an, zu Angriffen auf Finanziers. Schnell werden sie wie eine Sekte, die auch die Realität in ihr gewalttätiges Schauspiel einbeziehen. „Filme sind was Ernstes!“, fährt er einen Schützling an, der nicht ausreichend Schaden angerichtet hat – kurz bevor er ihm fest ins Gesicht schlägt.

Natürlich denunziert sich Sono mit dieser negativen Filmemacherfigur wieder einmal selbst. Sie hat einiges mit ihm gemeinsam. Der charismatische Murata weiß Menschen für sich einzunehmen, leitet ein Künstlerkollektiv, will Leben und Film vereinen und die starre, gefühlskalte Gesellschaft mit neuem Lebensblut durchfluten. Um das Geld für seine Filme kämpft er mit harten Bandagen. Und die Träume der jungen Filmemacher, die er verführt, richten sich auf den großen Preis des unabhängigen „Pia Film Festivals“, den auch Sion Sono selbst in der Vergangenheit gewonnen hat.

Alles ist verformbar

Wie zuletzt mit „Antiporno“ und „Tag“ werden traditionelle Blickregime hinterfragt. Verschiedene Bewegungen in der Filmbranche haben in den letzten Jahren kritisch beleuchtet, wie dort die Macht, Fiktion zu gestalten, oft auch auf die Realität übertragen wird. Sonos Selbstkritik bleibt weiterhin widersprüchlich, weil er immer noch oft auf die Effekte zurückgreift, die er bemängeln will: Drastische Gewalt, ausgestellte weibliche Körper. „The Forest of Love“ zersplittert infolgedessen in antagonistische Zweierkonstellationen: Taeko und Mitsuko ringen um Enthaltsamkeit und Promiskuität, Shin und sein Freund Jay um die Machtfantasien des Schöpfergenies. Die ganze Filmwelt wird hybrid, überall plötzliche Wendungen und Verwandlungen. Alles ist verformbar. Strenge Eltern werden Punks, selbst der berühmte Kanon in D-Dur von Johann Pachelbel, der immer wieder eingespielt wird, verwandelt sich plötzlich in einen J-Pop-Song.

Es liegt immer noch eine Faszination darin, Künstler im Ringen mit sich selbst zu erleben. Doch der Regisseur kann sein Wirken nicht ewig in der Schwebe halten, denn irgendwann bekommt auch Selbstkritik einen Charakter von Ritual und Rechtfertigung des eigenen Handelns. „The Forest of Love“ wirkt in seinen schwächeren Momenten schon etwas müde und abgekämpft. Erwartbares Chaos. Bald wird Sion Sono These und Antithese zu etwas Neuem formen müssen, sonst droht dem so agilen Filmemacher der Stillstand. Es wäre so viel Material vorhanden, so viel Wildwuchs, der nur einen neuen Grund braucht. Nur weil ein Film voll von Verwandlungen ist, stellt er noch lange nicht selbst eine dar.

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