Blut ist dicker als Worte. Wie eng die Zwillinge Lisa und Sven miteinander verbunden sind, zeigt „Schwesterlein“ schon in den ersten Bildern sehr direkt: Da rinnt der dunkelrote Saft, den Lisa im Krankenhausbett für ihren Bruder gibt, durch einen Kunststoffschlauch, und schon einen lichtdurchfluteten Schnitt später ist es Sven, der da liegt. Die Montage versetzt Sven in Lisas Lage und umgekehrt.
Der Theaterschauspieler Sven – Lars Eidinger spielt ihn als traurig-müden Clown – ist an Leukämie erkrankt, seine von Nina Hoss zwischen Gefasstheit und Auflösung verkörperte Schwester spendete ihm Knochenmark, deshalb gibt es neue Hoffnung. Die Schweizer Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond geben in ihrem zweiten Spielfilm jenen Momenten viel Raum, die zeigen sollen, dass die Verständigung über Leid und Liebe bei diesem Geschwisterpaar schon jenseits von Sprache funktioniert: Als Sven zunächst entlassen und im Taxi vom Tageslicht geblendet wird, holt Lisa wortlos ihre Sonnenbrille aus der Tasche und reicht sie ihm.
Lisa ist Theaterautorin, spezialisiert auf Stücke über zerstrittene Paare, die „aus Langeweile ihre Sexualität erkunden“, wie sie voller Schreib- und Selbstekel einmal vor sich hin knurrt. Seit der Diagnose ihres Bruders steckt sie jedoch in einer Schaffenskrise. Und durch sein Sterben wird sie wieder zum Schreiben finden. Das ist eigentlich schon die ganze Geschichte: Kunst und heilende Fürsorge sind einander verwandt, beide brauchen und erzeugen Empathie. So schlicht, so kompliziert.
Die schiere Angst vorm Nichtmehrsein
Als „Hamlet“ ist Sven der Star der Berliner Schaubühne, exakt wie Lars Eidinger im realen Leben. Es scheint, als solle diese Parallele die Kunstfertigkeit in der Darstellung des Unterschieds umso deutlicher machen, und Eidinger liefert als Sterbender gewohnt Beeindruckendes ab: Ohne jene im Kino oft pathetisch suggerierte Metamorphose des Kranken zum großen Weisen, lässt er seinen Sven sich jämmerlich verkleinern. Ohne jeden Heroismus bringt ihn die schiere Angst vorm Nichtmehrsein in ihre Gewalt. Hoffnung auf Transzendenz gibt ihm nur die Idee, weiter den „Hamlet“ zu spielen, und als ihm das verwehrt wird, klammert er sich an den Wunsch, seine Schwester möge endlich wieder schreiben. Letztlich läuft in „Schwesterlein“ alles darauf hinaus, stockende Worte wieder zum Fließen zu bringen, auch wenn das Blut aufhört zu zirkulieren.
Zur weiteren Illustration ihrer romantischen Kunstauffassung gruppieren die Regisseurinnen einen Reigen von Figuren um Sven und Lisa, die alle mit Theater oder Musik zu tun haben und nur wenig Einfühlungsvermögen besitzen. Untermalt unter anderem von Johann Sebastian Bachs „Wachet auf, ruft uns die Stimme“, erscheinen diese Nebenfiguren im barocken Sinne eitel: hinfällig, nicht über die Dauer der eigenen kleinen Existenz hinausweisend. Die Mutter der beiden, Kathy, als narzisstische Ex-Bühnendiva krächzig und filigran gespielt von Marthe Keller, soll sich um Sven kümmern, doch entpuppt sie sich theatralisch als überforderte Egomanin, die den Zeiten Bertolt Brechts nachtrauert. Der deprimierende Anblick ihres sterbenskranken Sohnes düpiert sie, und das ändert sich im Laufe des Films so wenig wie die enge Verbundenheit der Geschwister. Lisa nimmt ihren Bruder deshalb mit in die Schweiz, wo sie seit einiger Zeit lebt.
Künstler bis zum letzten Atemzug
Dort wartet schon der nächste, in schlechtem Licht dastehende Künstlertyp: der so karrierebewusste wie durchtrainierte Ehemann Martin (Jens Albinus). Er leitet in einem verschneiten Dorf ein Musik-Eliteinternat für den Nachwuchs des internationalen Geldadels und spricht in seinem Job viel von Leistung und Konkurrenz. Wer Künstler werden will, muss marktkonform funktionieren. Schreiben und Spielen sind für Lisa und Sven hingegen existenziell, wahres Künstlertum zeigt sich für sie darin, dass man es bis zum letzten Atemzug tut.
Das ist der Punkt, an dem auch David versagt, Svens Arbeitgeber. Der Intendant der Berliner Schaubühne, von deren realem Chef Thomas Ostermeier gespielt, hat schließlich „ein Haus zu füllen“. Mit seiner durchökonomisierten Denkart ist er dem neoliberalen Musen-Manager Martin ähnlich. Die Absetzung des „Hamlet“ begründet er selbstmitleidig mit ethischem Geprotze: Einen Sterbenden auf die Bühne zu bringen, sei „obszön“ und „pervers“. Doch anders als in Angela Schanelecs Theater-Film „Ich war zuhause, aber…“, wo eine aufgebrachte Maren Eggert gegenüber einem verdutzten Jungregisseur auf dem Kurfürstendamm ausführlich über die Falschheit eines solchen Unterfangens monologisiert, gipfelt hier die Auseinandersetzung auf Seifenopern-Niveau: „Du verstehst nichts!“, „Nein, du verstehst nichts!“
Was noch? Ach ja: Die Eheleute haben zwei mustergültig aufgeweckte Kinder, Noah und Linne-Lu, und die lieben ihren kindsköpfigen Onkel Sven. So ist das und so bleibt es. Keine der Figuren entwickelt sich, eine stirbt. Das ist das grundlegende Problem dieses Krebs-Dramas: Sein behauptetes Spiel mit Fiktion und Realität ist gar keines. Statt etwas Drittes, Überraschendes zu erzeugen, hängt sich die Fiktion beinahe schmarotzend ans Vorgefundene, wie etwa die tatsächlich vorhandene enge Verbindung zwischen Hoss und Eidinger, die seit Teenager-Tagen befreundet sind. Alles Interessante an „Schwesterlein“ existiert bereits außerhalb des Films, alles Hinzugedichtete hingegen wirkt oft so naheliegend, dass es ans Banale grenzt. Muss es ausgerechnet eine „Hänsel und Gretel“-Adaption sein, mit der Lisa ihre Schreibblockade überwindet?
Tiefe selbst bei Kitschgefahr
Trotzdem: Im „Monolog-Dialog“ am Ende, als Lisas und Svens Worte zusammenfließen wie zu Beginn des Films die Blutbahnen, zeigen Hoss und Eidinger, wie sie selbst solchen kitschgefährdeten Szenen Tiefe verleihen können. Da darf die Kunst endlich wirklich von ihrem Überwindungspotenzial erzählen und von ihrer Überlegenheit gegenüber dem Tod, dem sie so viel, vielleicht alles, zu verdanken hat.