Drama | Rumänien/Serbien/Schweiz/Schweden/Bosnien-Herzegowina/Nordmazedonien 2019 | 200 Minuten

Regie: Cristi Puiu

Fünf Männer und Frauen der besseren Gesellschaft treffen sich Ende des 19. Jahrhunderts auf einem noblen Landgut und verbringen einen Tag mit gemeinschaftlichem Essen, Plaudern und Streiten. Dabei verstricken sie sich in philosophische Debatten um Glauben und Moral, Krieg und die europäische Kultur im Verhältnis zu anderen Kulturen. Derweil gehen die Dienstboten des Hauses ihren Verrichtungen nach. Seltsame chronologische Verschiebungen und störende Momente aus einer latent bedrohlichen, winterlichen Außenwelt sorgen für Irritation. Eine fesselnde Auseinandersetzung mit einer Schrift des russischen Religionsphilosophen Wladimir Solowjow, die durch Auslassungen, Brüche und Verfremdungen eher wie das Dokument seiner Lektüre wirkt. Ein forderndes, in seiner Vielschichtigkeit und seinem Beziehungsreichtum aber auch ungemein reiches und bereicherndes Werk. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MALMKROG
Produktionsland
Rumänien/Serbien/Schweiz/Schweden/Bosnien-Herzegowina/Nordmazedonien
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Mandragora/Iadasarecasa
Regie
Cristi Puiu
Buch
Cristi Puiu
Kamera
Tudor Panduru
Schnitt
Dragoș Apetri · Andrei Iancu · Bogdan Zărnoianu
Darsteller
Frédéric Schulz-Richard (Nikolai) · Agathe Bosch (Madeleine) · Diana Sakalauskaité (Ingrida) · Marina Palii (Olga) · Ugo Broussot (Edouard)
Länge
200 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Historienfilm | Literaturverfilmung
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IMDb | TMDB

Fünf Männer und Frauen aus besseren Kreisen treffen sich in einem noblen Landgut und verbringen den Tag mit Essen, Plaudereien und philosophischen Debatten. Eigenwillige Adaption von Wladimir Solowjows „Drei Gespräche“.

Diskussion

Spätestens wenn in einer winterlichen Schneelandschaft vor dem Anwesen im titelgebenden Malmkrog in Transsilvanien friedliches Frühlingsvogelgezwitscher aus der Tonkonserve vernehmbar ist, weiß man, dass nicht alles so offensichtlich ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

Auf der Oberfläche wagt sich Cristi Puiu, der der radikale, etwas aus dem Drang der Zeit gefallene Papst des Neuen Rumänischen Kinos, hier an die erstaunliche Adaption eines der ganz großen theologischen Texte über das Gute und das Böse: Wladimir Solowjows „Drei Gespräche“, eine rauschhafte, geradezu unwirklich prophetische Auseinandersetzung mit den Formen und Masken des Bösen, die in einer augenöffnenden, wenn auch pessimistischen Erzählung enden, die vom Kommen des Antichristen, verkleidet als großer Gleichmacher und Friedensstifter, handelt, dem sich nur einige weitsichtige Katholiken entgegenstellen. Liest man diesen Text heute, schaut er einen direkt an. Insbesondere die Unklarheiten des Seins, die Puiu an das Ende des Fin-de-Siècle-Historienfilms setzt, spiegeln die Unsicherheiten und Zweifel der heutigen Auseinandersetzung (oder deren Abwesenheit) mit größeren Fragen über den Sinn des Daseins.

Auseinandersetzung mit Wladimir Solowjow 

Nachdem Puiu sich im Jahr 2011 im Rahmen eines Workshops mit dem Text Solowjows auseinandersetzte und sogar ein „kleiner“, zu wenig beachteter Film mit dem Titel „Trois excercises d’interpretation“ entstand, kratzte er nach seinem grandiosen DramaSieranevadaaus allerhand vergessenen Kinoländern (Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien, Schweiz, Rumänien, Serbien) Geld zusammen, um die Handlung der Vorlage von der französischen Riviera in den Westen Rumäniens zu legen. Eine gewagte Entscheidung, da Puiu bislang sehr wenig mit Kostümen und Adaptionen am Hut hatte. Allerdings beschäftigt er sich seit seinem Durchbruch mit „Der Tod des Herrn Lazarescu“ beinahe manisch mit dem Sterben, und eine zunächst eher zart vorhandene spirituelle Ebene nimmt in seinem Werk zunehmend mehr Raum ein. Gesprochen wird in „Malmkrog“ Französisch und Ungarisch und Deutsch, was ein erstes Bemühen um historische Akkuratesse vermuten lässt, denn die Aristokratie dieser Gefilde ließ es sich nicht nehmen, den Gästen mit der ach so kultivierten und fortschrittlichen Sprache Rousseaus zu begegnen.

Als Puiu, dessen Filmproduktionen einem Familienbetrieb gleichen, am Set feststellte, dass ein Großteil der Technik einem Kurzschluss zum Opfer gefallen war, wackelte die Produktion ganz vehement, was aber irgendwie auch zum Inhalt des Films und der beständigen Ahnung eines kommenden Unheils passt. Die zweite Garnitur an Kameras und Ladegeräten ließ der Filmemacher kurzerhand vom lokalen Priester segnen; und dem unerschütterlichen Glauben mancher der Figuren entsprechend hielt das Equipment in der Folge.

Im Diskurs prallen Positionen aufeinander

Mit wenigen Unterbrechungen und chronologischen Verschiebungen hält sich Puiu erstaunlich eng an die Vorlage und lässt die fünf Protagonisten (Nikolai, Ingrida, Olga, Edouard, Madeleine) im formalen und beinahe abstrakten Setting zu Tisch oder in großen Räumen zwischen Gemälden, einem Klavier und monotonen Bücherregalen diskutieren, streiten und gelegentlich lachen. Es werden unterschiedliche Positionen zur Moral vorgetragen; die Bezeichnungen der literarischen Protagonisten geben ganz gute Hinweise darauf, wie diese Positionen aussehen: der General, bei Puiu eine Frau, Ingrida, der fortschrittsgläubige Prinz, bei Puiu eine Frau, Olga, der intelligente Herr Z., die Dame des Hauses und ein um Kompromiss und gute Umgangsformen ringender Politiker.

Fortschrittsglaube wird dabei genauso hinterfragt wie Vegetarismus, Kriegshandlungen oder der angeblich mögliche Friedenszustand der kultivierten Menschheit. Es entfaltet sich ein tiefgehendes philosophisches Gespräch, dem man nicht wirklich folgen kann, wenn man das Buch nicht kennt oder den Film nur einmal sieht. Dass es im Film so schwer fällt, der eigentlich luziden und mitreißenden Rhetorik des russischen Religionsphilosophen zu folgen, und so nur aufblitzende Ideen oder Sätze hängenbleiben, hängt an Puius eigentlichem Vorhaben.

Löcher im Erzählgewebe

Ab und an kommt es zu Unterbrechungen, die wiederholt bedrohlich, einmal sogar gewaltvoll von einer Außenwelt berichten, die dieser dekadenten Runde mit ihren hohen Themen fern scheint. Die Kamera interessiert sich ohnedies mehr für die Bediensteten und deren triste Choreografie der Unterwerfung. Die Bewegungen gleichen einem fehlerhaften Ballett, die Löcher werden größer, die formale Erhabenheit als ängstlicher Witz entlarvt. Mehr noch als um die an Jean Renoir oder ein ganzes Genre der französischen und deutschen Literatur erinnernde Kritik am Adel scheint hier eine Frage durch, die sich im zeitgenössischen Kino nur Puiu so ernsthaft zu stellen traut: Wie kann man so einen historischen Dialog filmen?

Seine Lösungen sind hier nicht immer so atemberaubend wie in anderen Filmen, aber unheimlich konsequent und effektiv. Der von vielen gelobte Umgang mit Kamera und Bewegung ist hier im Vergleich zu Filmen wie „Aurora“ seltsam saftlos und unentschieden. Man spürt, dass die Kamera, einem abgelenkten Zuhörer gleich, immer wieder das mitnimmt, was an den Rändern oder hinter den Kulissen geschieht. Auf diese Weise wird einem jederzeit bewusst, dass es eine größere, nie ganz greifbare Welt gibt. Das, was einem beständig entwischt, wird genauso wichtig wie das, was man sieht und hört.

Eine subjektive Lesart des Originals

Puius Vorschlag für den Umgang des Kinos mit historischen und theoretischen Texten in „Malmkrog“ ist der einer subjektiven Lesart, sozusagen ein anti-straubianisches Modell. Statt sich wirklich an der Vorlage zu orientieren, verändert Puiu deren Wahrnehmung. Er lässt beinahe willkürlich Elemente aus, wandelt andere um, schwächt Argumente, lässt sich ablenken, entfernt sich vom Text und kehrt zurück, verfremdet Bild und Ton, bricht Szenen ab und kehrt zu ihnen zurück, als wäre nichts geschehen, beinahe so, als wäre dies ein Film über die Lektüre eines Menschen heute und nicht über das Werk und dessen Gedanken selbst. Der Film imitiert nicht die Leseerfahrung, sondern dokumentiert sie. Dadurch nimmt er den Zuschauerinnen gleichermaßen die Freiheit, selbst abgelenkt zu werden.

„Malmkrog“ versucht, die Menschen jederzeit so sprechen zu lassen, als würde ihnen dieser oder jene Gedanke just in dem Moment kommen. Gleichzeitig interessiert er sich nicht wirklich für das, was hinter den Worten steht. Es gibt keine psychologische Zeichnung, sondern eine möglichst nüchterne Abstraktion. Es herrscht Chaos statt Klarheit, Verirrung statt eines angenehmen Rhythmus. Eine wahrhaft fordernde, aber auch lohnende Beschäftigung.

Wenn es nur um die Themen des Buches ginge, müsste man feststellen, dass der Filmemacher nichts hinzufügt, sondern sogar hochspannende Parallelen zur heutigen Gesellschaft auslässt. Geht es aber um das, was das Kino im Verhältnis zur Literatur ist, hat man es hier wirklich mit einem faszinierenden Werk zu tun.  

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