Dokumentarfilm | Rumänien 2019 | 128 Minuten

Regie: Radu Jude

In den frühen 1980er-Jahren schrieb ein rumänischer Schüler mit Kreide ein paar Parolen an Zäune und Wände und wurde dafür von der totalitären Staatsmacht brutal zur Rechenschaft gezogen. Auf der Grundlage eines Theaterstücks, das aus den Akten der Geheimpolizei, Abhörprotokollen und Tonbandaufnahmen zitiert, verbindet der dokumentarische Film nüchtern vorgetragene Passagen der Theateradaption mit Bildern aus dem damaligen Unterhaltungsfernsehen. Die tragische Geschichte eines Einzelnen tritt dadurch in einen Dialog mit der ausgestrahlten Fernseh-Wirklichkeit und erzeugt schmerzhaft-produktive Reibungen angesichts der Wechselwirkung von systematischer Verdummung, Falschinformation und Entertainment. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
TIPOGRAFIC MAJUSCUL
Produktionsland
Rumänien
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
microFilm
Regie
Radu Jude
Buch
Radu Jude · Gianina Cărbunariu
Kamera
Marius Panduru
Schnitt
Cătălin Cristuțiu
Darsteller
Bogdan Zamfir · Şerban Lazarovici (Mugur Călinescu) · Ioana Iacob (Die Mutter) · Şerban Pavlu (Der Vater)
Länge
128 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm | Drama | Historienfilm
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Dokudrama über den exemplarischen Fall eines 16-jährigen Schülers, der Anfang der 1980er-Jahre von der totalitären Staatsmacht in Rumänien wegen ein paar Kritzeleien brutal verfolgt wurde.

Diskussion

Die verblichene Aufnahme zeigt zwei Herren und eine Dame vor einer kitschigen Blumenkulisse. Gerade noch lobten sie in höchsten Tönen ihren Präsidenten Nicolae Ceaușescu – aufrecht wie eine Eiche sei er, ein Friedensbringer auf Erden –, doch jetzt starren sie hilflos und ein wenig verlegen an der Kamera vorbei. Minutenlang, wie Roboter ohne Funksignal. Der Teleprompter ist ausgefallen, die Inszenierung unterbrochen. Es entsteht eine merkwürdige Leerstelle, fast schon ein Machtvakuum. So beginnt „Uppercase Print“ des rumänischen Regisseurs Radu Jude, der sich auf die Suche nach genau solchen Brüchen in der großen Ceaușescu-Show im Rumänien der 1980er-Jahre macht.

Mit Kreide an Zäune und Mauern gemalt

Dazu kontrastiert Jude Szenen aus Fernsehsendungen dieser Zeit mit den von Schauspielern vorgelesenen Polizeiakten eines realen Falls. In der Stadt Botoşani werden 1981 mit Kreide an Zäune und Wände gekritzelte Parolen entdeckt. In den Großbuchstaben standen dort simple Forderungen nach Freiheit, Nahrungsmitteln oder einer Orientierung an den demokratischen Entwicklungen in Nachbarländern wie Polen. Innerhalb kürzester Zeit identifizierte die Polizei den Schüler Mugur Călinescu als Täter; auch seine Familie, Freunde und sogar Lehrer wurden wie Mitschuldige behandelt. Die Großbuchstaben wurden ihm zum Verhängnis; es hagelte Repressalien gegen Versalien und Muskeln gegen Majuskeln. 1985 starb Mugur Călinescu unter ungeklärten Umständen.

Bis heute beteuern Polizei und Geheimdienst ihre Unschuld. Auch nach dem Ende des Ceaușescu-Regimes wurden viele Staatsverbrechen nicht aufgearbeitet. Die Theaterregisseurin Gianina Cărbunariu hat die Erlebnisse des Schülers 2013 als Dokumentartheaterstück aufgeführt.

Die Darsteller verlesen die Protokolle vor minimalistisch-einfarbigen Hintergründen. Dabei blicken sie direkt in die Kamera und tragen ihre Texte ohne besondere Emotion vor, als würden sie sie ablesen. Sie spielen weniger Rollen, sondern stehen eher für sie ein; sie sind also so etwas wie Sprecher, die den Figuren ähneln. Radu Jude glaubt nicht an die naive Illusion, Vergangenheit einfach wie in einem Historienfilm nachstellen zu können. Schon sein Film „Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichten eingehen“ rang um die Darstellbarkeit einstiger Schrecken. Der Regisseur setzt auf Verfremdung und analytische Montage.

Geheimakten und Medienbilder

Sehr schnell wird deutlich, zu welcher Art von Inszenierung Jude auf Distanz gehen will. Denn seine Version des Theaterstücks ergänzt er vor allem um die damaligen Medienbilder. Die persönliche, vormals verborgene Geschichte eines Einzelnen tritt in einen Dialog mit der historischen Fernseh-Wirklichkeit; die unsichtbaren Ereignisse der Geheimakten in einen Austausch und Wechsel mit der staatlichen Selbstdarstellung. Natürlich entstehen Brüche und Widersprüche. Das rumänische Unterhaltungs- und Informationsprogramm wird als Tele-Prompter gezeigt, als kollektiver Stichwortgeber und Weltordner. Am Anfang des Films stehen zwei Zitate. Eines stammt von dem rumänischen Dichter Ion Stratan, das andere von Michel Foucault. Dessen Thesen zu Disziplinargesellschaft und Panopticon klingen immer wieder an.

Die disziplinierende Gewalt der Staatsmacht setzt sich lückenlos im Unterhaltungsprogramm fort, egal ob Nachrichtenberichte oder Kühlschrankwerbung, Koch-Show oder Opern-Mitschnitt, Service-Format oder Musiksendung. Im Angesicht von Mugur Călinescus Schicksal wirkt jede fröhliche Geste und jedes Lachen wie grausamer Hohn. Einmal erzählt er, dass seine Parolen ein Produkt der Langeweile gewesen seien, während Jude auf einen Beitrag über sportliche Ertüchtigung schneidet, die Jugendlichen die Flausen austreiben soll.

Der allwissende (Fernseh-)Apparat

In einer Sendung werden Menschen zur Rede gestellt, die ordnungswidrig gehupt haben. Einerseits zwingt man sie zur Selbstkritik, andererseits verhöhnt der Off-Sprecher die Verkehrssünder. Bei einem Herrn mit längeren Haaren versichert er spöttisch: „Ja, das ist ein Mann.“ Die Kamera vollzieht den Blick der Polizei nach, damit die Bürger mit den Augen jener schauen, die sie überwachen – sich also mit der Macht identifizieren, die sie diszipliniert. Wenn Mugur Călinescu mit seinen Eltern spricht, dann geschieht das immer vor demselben Set: Ein gewaltiger Fernsehapparat füllt den Bildhintergrund. Ein göttliches Auge mit strafendem Blick, das nie nur betrachtet, sondern immer auch Betrachter ist.

Denn auch das zeigt der Regisseur: Die Macht als Gestaltwandler. Als Faktum, dass sich gleichzeitig selbst verleugnet und stolz ausstellt, dass in die Ritzen der Existenz kriecht.

Die meisten Texte der Schauspieler sind Geständnisse. Unentwegt gestehen der Schüler, seine Eltern und seine Freunde ihre Schuld ein. Sie verleumden sich vor dem gierigen Auge der Kamera. Die Macht ist nicht nur um sie herum, sondern längst auch in ihnen.

Den alten Fernsehsendungen haftet auch etwas Unwirkliches an. Die abgenutzten Videobilder sind kraftlos und entsättigt; in ihrer bunten Farblosigkeit wirken sie wie ein vergangener Traum. Mehrfach werden anscheinend gewichtige Staatsangelegenheiten ohne Ton gezeigt, die dadurch zur Farce verkommen. Was Propaganda aus einer anderen Epoche allerdings mit zeitgenössischer verbindet, ist der Umstand, dass man sich ihr allzu leicht überlegen fühlt. Doch „Uppercase Print“ gibt sich nie dem wohlfeilen Spott hin. Die Inszenierung weiß auch um die Agonie des Entlarvens. Egal, wie aufgeklärt wir uns wähnen, wie sehr wir die Dinge enttarnt und ihre Masken zu Staub getreten haben mögen – dieselben Strukturen und Mächte finden stets neue Formen. Noch die Wirklichkeit hinter der Fassade muss als Fassade gedacht werden; noch der Akt des Offenlegens kann verschleiern.

Nur ihre Pflicht getan

Es ist eine der witzigsten und bittersten Pointen des Films: Die Securitate-Mitarbeiter, die den Schüler (wahrscheinlich) in den Tod getrieben haben, sitzen plötzlich am Catering des Sets. Zwischen Obstkorb und Kaffeemaschine erklären sie, dass sie nur ihre Pflicht getan hätten. Der Film lässt ihre leeren Phrasen über Aufnahmen aus dem Rumänien der Gegenwart schallen. Nichts hat sich geändert.

Aber wer weiß? Der Film endet mit Fotografien von Călinescus Großbuchstaben-Graffiti. In diesem Moment verwandelt sich die Kinoleinwand und wird für eine kurze Zeit zu diesen Zäunen und Mauern, an die vor etwa 40 Jahren ein verzweifelter Teenager seine Gesuche kritzelte. Nur, dass sie jetzt in der Gegenwart stehen, überall da, wo der Film gezeigt wird. Es ist wohl eher eine Utopie als die Realität, aber kein schlechter Traum: Das Kino als Mauer, auf den noch die Machtlosesten und Einsamsten ihren „cri du cœur“ kratzen können. Für eine Welt, die sehen kann oder es gerade erst lernt.

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