Coming-of-Age-Film | Italien/USA 2020 | 480 (Folgen) Minuten

Regie: Luca Guadagnino

Eine Coming-of-Age-Serie rund um amerikanische Jugendliche, die zusammen mit ihren Eltern auf einer fiktiven US-Militärbasis in Italien nahe Chioggia in Venetien leben. Ein schillerndes, mit Anspielungen und Zitaten spielendes Porträt der ebenso spannenden wie fragilen Phase jugendlicher Selbstfindung, getragen von eindrucksvollen Darstellern und einer Inszenierung, die die Zuschauer zu teilnehmenden Beobachtern der Jugendlichen und ihrer Suche nach (sexueller) Identität macht. Dabei gelingen extreme, aber in sich stimmige Charakterzeichnungen – ungeschützt und ungeschönt, roh, wild, hochemotional und deshalb glaubwürdig. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
WE ARE WHO WE ARE
Produktionsland
Italien/USA
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
The Apartment/Wildside
Regie
Luca Guadagnino
Buch
Paolo Giordano · Francesca Manieri · Luca Guadagnino
Kamera
Fredrik Wenzel · Yorick Le Saux · Massimiliano Kuveiller
Musik
Devonté Hynes
Schnitt
Marco Costa
Darsteller
Jack Dylan Grazer (Fraser Wilson) · Jordan Kristine Seamón (Caitlin Poythress) · Francesca Scorsese (Britney) · Spence Moore (Danny Poythress) · Faith Alabi (Jenny)
Länge
480 (Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Coming-of-Age-Film | Serie
Externe Links
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Eine Coming-of-Age-Serie von Luca Guadagnino rund um amerikanische Jugendliche, die zusammen mit ihren Eltern auf einer fiktiven US-Militärbasis in Italien leben.

Diskussion

Luca Guadagnino ist ein Meister seines Fachs, der es etwa versteht, mit den Mitteln seines Handwerks eine platte Landschaft wie das venezianische Hinterland als prägende Protagonistin seines Plots zu inszenieren. Jemand, der seine Stoffe und Motive stets vielsagend neu zu arrangieren weiß, zum Beispiel das gerade fürs filmische Erzählen so ergiebige Verhältnis von Italien und den USA. Und schließlich ein Meister eines zarten, intimen kinematografischen Blicks, der der delikaten Phase der Jugend an der Schwelle zum Erwachsenwerden in extremen, aber in sich stimmigen Charakterporträts Gesicht verleiht – ungeschützt und ungeschönt, roh, wild, hochemotional und deshalb glaubwürdig. Seine bei Kritik und Publikum gleichermaßen geschätzte „Trilogie des Begehrens“ legt glänzendes Zeugnis davon ab. Dieses stilistische und erzählerische Niveau hält Guadagnino auch in seinem Seriendebüt „We Are Who We Are“.

Begleitete er in „Call Me By Your Name“ (2017) wesentlich eine Hauptfigur, Elio (Timothée Chalamet), so gelingt es Guadagnino hier, ein Konzert sehr unterschiedlicher, lauter und leiser Stimmen zu orchestrieren, von denen jede ungefähr gleich viel Resonanz erfährt. Es ist eine Gruppe von sechs Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die als Angehörige von aktiven Kräften auf einer US-Militärbasis in der Nähe von Chioggia in recht isolierter Insellage leben, sich verlieben, Rollen und Kostüme anprobieren – soziale und tatsächliche – und am sonnigen Strand auch mal philosophisch die Seinsfrage stellen. Es ist dabei im Kern stets der gleiche Tag, geschildert in moderaten Zeitsprüngen, den sie rumzubringen haben, im Willen, etwas Besonderes zu erleben. Dass dabei keine Langeweile aufkommt, bei ihnen nicht und auch nicht bei den Zuschauern, ist das Verdienst von Guadagninos involvierender filmischer Erzählung.

Jack Dylan Grazer als nerdiger Schlaks mit den empfindsamsten Augen der Welt

Der Beginn markiert eine neue Zeit: Der alte Kommandant geht, und mit Sarah Wilson (Chloë Sevigny) und ihrer Frau Maggie (Alice Braga) hält moderner, urbaner Lifestyle Einzug in den US-Außenposten, insbesondere durch Sarahs Sohn Fraser (Jack Dylan Grazer): hochpubertär, pendelnd zwischen mildem Autismus und forcierter Enthemmung, radikal nonkonformistisch, wie Elio gleichermaßen begabt und geschlagen mit einer außergewöhnlichen Sensibilität, die ihn kleinste emotionale Veränderungen in seinem Umfeld seismografisch erspüren lässt.

Der gebürtige New Yorker ist in hohem Maße stilbewusst, tritt modisch extravagant in Erscheinung und wird selten ohne Kopfhörer gesehen – ein Gestus der Distanzschaffung und Weltabweisung, mit dem Fraser die Musik wie einen Filter zwischen sich und die anderen legt. Er liest mit der Gier eines Verhungernden, er hat ein manifestes Alkoholproblem, er schlägt seine Mutter: Guadagnino zeichnet, wieder einmal, das Porträt des Künstlers als junger Mann. Grazer spielt das in aller Outriertheit sehr glaubwürdig, als nerdiger Schlaks mit den empfindsamsten Augen der Welt.

Eine moderne Initiationsgeschichte

An seinem ersten Morgen im neuen Land schnappt ihn sich sogleich Britney (Francesca Scorsese) – „heute gehörst du mir!“ –, und man hat als Zuschauer das Gefühl, sie nehme auch einen selbst an der Hand und mit in eine im Wesentlichen selbstbestimmte Welt der Adoleszenz, in der die Jugendlichen bis zur Grenze der Verwahrlosung sich selbst überlassen sind in ihrem „kingdom by the sea“ – so geschickt agiert die Kamera als Auge eines teilnehmenden Beobachters, zeigt Intimes, vermeidet Voyeurismus. Hier wird auch ein Zentralmotiv im Guadagnino’schen Œuvre erneut entfaltet: die Erkundung des eigenen Körpers (und des/der der anderen), eine Art moderner Initiation in Gender und Gesellschaft, die Suche nach (sexueller) Identität.

Besonders faszinierend finden sich früh Fraser und Caitlin Poythress (Jordan Kristine Seamón), die offener noch als er in diese Richtung experimentiert, obwohl sie in bürgerlich-konservativer Familie aufwächst. Herrlich die Szene, in der ihr Vater (Scott Mescudi) sie mit Trumps „Make America Great Again“-Basecap überraschen möchte, die natürlich so gar nicht auf ihren eigensinnigen Kopf voll widerspenstiger Haare passen will. Oder eine weitere Szene, die noch mehr Haare, Caitlin und Fraser gemeinsam im Bad, viel weiße und schwarze Haut sowie eine große Menge an Rasierschaum vereint.

Zwischen Exzess und existenzieller Einsamkeit

Manchmal beschleicht einen das Gefühl, Guadagnino blicke mit mildem alteuropäischem Snobismus auf den American Way of Life, etwa wenn die fortwährende, gedankenlose Umweltverschmutzung durch die Youngsters oder die erstarrte militärische Ehrpusseligkeit ihrer Eltern gezeigt werden. Aber dann verwandelt sich sein kinematografischer Blick in eine Hommage an die Leitkultur der westlichen Welt und ihr filmisches Erbe: Die Szene, in welcher Fraser Caitlin durch sein und ihr Fenster und beim Hübschmachen beobachtet, ist ein klares „American Beauty“-Zitat!

Sowieso spielen Anspielungen und Zitate eine nicht unwichtige Rolle. Die Serie kulminiert etwa in der vierten Episode in einem lang ausgeschilderten Sommerfest in einer leerstehenden Villa, das nicht enden zu wollen scheint, und bei dem das Seinsgefühl aller konvergiert in einem Rave von Alkohol, Musik, sexueller Verfügbarkeit und der existenziellen Empfindung, das schon morgen alles vorbei und der Ausnahmezustand eingetreten sein könnte. Diese moderne Commedia dell’Arte, gemixt aus venezianischem Karneval und amerikanischer Collegeparty, ruft Erinnerungen wach an eines der grandiosesten Finale der italienischen Filmgeschichte, die Nacht der Ausschweifung und die Ernüchterung am bleigrauen Morgen danach in Fellinis „La dolce vita“. Exzess und existenzielle Einsamkeit erweisen sich erneut als die entscheidenden Pole in Luca Guadagninos Werk, die ein Menschenleben ausmessen, bevor es noch ernstlich begonnen hat. Im Blick des Meisters ist dies eine filmische Perspektive, die süchtig machen kann – mehr davon!

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