Drama | USA/Großbritannien/Griechenland/Israel 2021 | 117 Minuten

Regie: Maggie Gyllenhaal

Eine Literaturwissenschaftlerin macht Urlaub auf einer griechischen Insel und genießt die Zeit am Strand, bis eine Großfamilie auftaucht und ihre Ruhe stört. Insbesondere die Präsenz einer jungen Mutter und deren kleiner Tochter wecken Erinnerungen an ihre eigene Vergangenheit. Die Adaption des gleichnamigen Romans von Elena Ferrante changiert elegant zwischen zwei Zeitebenen und verwebt diese zum Porträt einer Frau, die sich von klassischen Rollenbildern löst, dafür aber die Bürde latenter Scham mit sich trägt. Der Film arbeitet eindringlich die ungleichen Verhältnisse zwischen den Geschlechtern heraus sowie den Druck, der dadurch auf der fulminant verkörperten Protagonistin lastet. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
THE LOST DAUGHTER
Produktionsland
USA/Großbritannien/Griechenland/Israel
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Endeavor Content/Faliro House Prod./Pie Films/Samuel Marshall Prod.
Regie
Maggie Gyllenhaal
Buch
Maggie Gyllenhaal
Kamera
Hélène Louvart
Musik
Dickon Hinchliffe
Schnitt
Affonso Gonçalves
Darsteller
Olivia Colman (Leda) · Dakota Johnson (Nina) · Peter Sarsgaard (Prof. Hardy) · Jessie Buckley (Junge Leda) · Paul Mescal (Will)
Länge
117 Minuten
Kinostart
16.12.2021
Fsk
ab 12
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Eine Literaturwissenschaftlerin wird während eines Griechenland-Urlaubs von Erinnerungen eingeholt, in denen es um ihre Rolle als Mutter geht.

Diskussion

Die Szene am Strand erscheint der Britin Leda (Olivia Colman) wie ein Déjà-vu. Ein kleines Mädchen ist verloren gegangen. In wiederkehrenden Flashbacks erinnert sich Leda daran, wie auch sie im Wasser stand und nach ihrer kleinen Tochter rief, damals vor beinahe 20 Jahren. Auch jetzt sucht die ganze Familie panisch nach dem Kind, lässt hektisch Blicke über den Horizont schweifen und durchforstet die Umgebung. Leda beteiligt sich an der Rettungsaktion und findet das Mädchen nur wenige Meter entfernt in einem Dickicht. Ob sie ihre eigene Tochter damals wiederfinden konnte, bleibt lange unklar und schwebt wie eine dunkle Wolke über dem Film.

Sie ist Literaturprofessorin und will eigentlich ihren Griechenlandurlaub ungestört verbringen. Am Strand übersetzt sie Dante und recherchiert einen neuen Aufsatz. Ihr Vermieter (Ed Harris) schätzt sie jünger als sie ist, und der Student, der ihr an der Strandbar Eis verkauft, sagt ihr, dass sie schön sei. Sie fühlt sich geschmeichelt. Er sei im Alter ihrer Töchter, erzählt sie ihm. Für einen kurzen Moment scheint sie zufrieden im Hier und Jetzt. Mit der lauten US-amerikanischen Sippschaft, die sich am Strand neben sie aufpflanzt, bricht jedoch ihre Vergangenheit über sie herein. In der jungen Mutter Nina (Dakota Johnson) scheint sie sich selbst wiederzuerkennen, die ihre Tochter nun wieder in die Arme schließt, aber dennoch mit ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau hadert.

Die Vergangenheit drängt in die Gegenwart

In ihrem Regiedebüt adaptiert die Schauspielerin Maggie Gyllenhaal den Roman „Frau im Dunkeln“ der italienischen Schriftstellerin Elena Ferrante. Präzise und mit einem guten Auge für Texturen und Licht inszeniert sie dieses Psychogramm einer Frau, die glaubt, im Reinen mit sich und ihrer Vergangenheit zu sein. Jedoch wird sie immer wieder vom Druck eingeholt, den klassische Rollenbilder auf ihre Selbstwahrnehmung ausüben.

Unerwartet und unsortiert prasseln ihre Erinnerungen auf sie ein und decken Spuren von Schmerz und Trauer auf. Es deuten sich aber auch geheime Wünschen und Sehnsüchten an, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart drängen und zu gewichtig werden, um sie weiter zu verdrängen: die Ungeduld ihren kleinen Töchtern gegenüber, wenn diese laut herumtobten, die Angst, als Mutter nicht zu genügen, und die Scham beim Eingeständnis, dass ihr die Karriere immer wichtiger war als ihre Familie.

Das Flirren der Sonne über dem Meer, das Spiel von Licht und Schatten unter den Sonnenschirmen und in Ledas Ferienwohnung lassen ihre Erinnerungen wie eine Ahnung aus schwül wabernder Luft auf sie herabsinken und sich auf ihr Gemüt legen. Als Ninas kleine Tochter kurz nach ihrer Rettung auch noch eine geliebte Puppe vermisst, gerät auch hier Ledas Erinnerung in Bewegung. Diesmal handelt sie impulsiv und verzweifelt. Der Verlust von Lebensmittelpunkten hallt durch „Frau im Dunklen“ und durch Ledas Leben.

Maggie Gyllenhaal ist eine genaue Beobachterin und darauf aus, mit kleinen Details und Nuancen die Gefühlswelt ihrer Figuren effektiv zum Leben zu erwecken. Deshalb macht sie ihre Hauptdarstellerin Olivia Colman zum Gravitationszentrum dieser Seelenschau. Mit winzigen Verschiebungen in Mimik, Kopfhaltung oder Körperspannung lässt Colman ganze Welten auf einen Schlag zusammenbrechen, aber auch kleine Alltagssituationen bisweilen humorvoll greifbar werden. Ihr angewiderter, entsetzter und zugleich verzweifelter Blick, als Ninas Familie den bis dahin ruhigen Strand usurpiert, sagt alles über ihren Wunsch nach Einsamkeit. Und in ihrer Herablassung gegenüber der zu lauten und etwas prolligen Familie klingt zugleich immer wieder die Sehnsucht nach ihren eigenen Töchtern an.

Suche nach verschiedenen Identitäten und Rollen

Eigenwillig mag die Entscheidung wirken, neben Colman Jessie Buckley zu besetzen, die als junge Leda in den Rückblicken mit den an sie herangetragenen Rollenbildern kämpft. Quirlig und impulsiv spielt Buckley die junge Mutter und Dozentin, die nach einer Affäre mit einem Kollegen ins Wanken gerät. Ihre Unruhe lässt sie im Unterschied zur reservierten und aufgeräumten Griechenlandurlauberin zunächst wie eine völlig andere Person wirken, doch blitzen auch bei ihr immer wieder jähzornige Momente durch, die ahnen lassen, wer sie früher einmal war.

Gerade diese Suche nach den verschiedenen Identitäten und Rollen, die eine Frau im Laufe ihres Lebens annimmt, macht „Frau im Dunkeln“ aus. Die Inszenierung gleicht die beiden Ledas immer wieder miteinander ab, findet Inkonsistenzen und Widersprüche. Vielleicht würden die beiden einander nicht wiedererkennen, wenn sie aufeinanderträfen, und gehören doch zueinander. Colman und Buckley, so unterschiedlich sie Leda auslegen mögen, ergänzen diese Figur zu einer leibhaftigen Person, deren Leben jenseits der Erzählungen und Selbstzuschreibungen, die man sich immer wieder zurechtlegt, voller Sackgassen, Zirkelschlüsse und Ungereimtheiten ist – und gerade deshalb so lebendig.

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