Drama | Kanada 2021 | 93 Minuten

Regie: Randall Okita

Eine erblindete junge Frau bleibt, während die Besitzerin verreist ist, allein mit einer Katze in einer abgelegenen Villa. Als des Nachts drei Einbrecher in dem Haus auftauchen, versucht sie, sich zu verstecken, und findet über eine App Beistand durch eine junge Ex-Soldatin, die mittels Smartphone-Kamera als ihr Auge fungiert. Der Thriller nutzt die Sehbehinderung seiner Protagonistin nicht nur als Spannungselement, sondern überzeugt als Psychogramm einer wütenden, erfrischend widerborstigen jungen Frau, die wild zur Selbstbehauptung entschlossen und dabei unberechenbar ist. Auch die durchdachte, atmosphärische visuelle Umsetzung hebt den Film über den Genredurchschnitt hinaus. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MIRA POR MÍ
Produktionsland
Kanada
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Wildling Pict.
Regie
Randall Okita
Buch
Adam Yorke · Tommy Gushue
Kamera
Jordan Oram · Jackson Parrell
Musik
Joseph Murray · Lodewijk Vos
Schnitt
James Vandewater
Darsteller
Skyler Davenport (Sophie) · Jessica Parker Kennedy (Kelly) · George Tchortov (Otis) · Pascal Langdale (Ernie) · Joe Pingue (Dave)
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Mystery
Externe Links
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Heimkino

Die Editionen enthalten eine Audiodeskription für Sehbehinderte.

Verleih DVD
Atlas (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
Verleih Blu-ray
Atlas (16:9, 2.35:1, dts-HDMA engl./dt.)
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Thriller um eine blinde junge Frau, die es in einem abgelegenen Anwesen mit Einbrechern zu tun bekommt.

Diskussion

Der konzentrierte Blick einer Skifahrerin vor der Abfahrt, ein Fernsehbildschirm mit einer Sportsendung, einige Ski-Pokale in einem Regal, eine tastende Hand, die über mit Sicherheitsnadeln markierte Kleider streicht, ein Koffer, der gerade gepackt wird: „See for Me“ beginnt mit einer Reihe loser Nah- und Großaufnahmen, die zunächst etwas desorientierend wirken, aber bald eine tragische Geschichte erahnen lassen. Sophie (Skyler Davenport), die da gerade am Packen ist, ist blind. Die Erkrankung, die ihr das Augenlicht genommen hat, hat auch ihre vielversprechende Karriere als Profi-Skifahrerin abgewürgt, was die junge Frau mit latenter Bitterkeit erfüllt.

Mitleid und gutgemeinte Hilfsangebote sind ihr zuwider, wie kurz darauf ihre stachlige Interaktion mit ihrer Mutter zeigt. Diese ist alles andere als begeistert davon, dass Sophie per Taxi mit ihrem Rollkoffer im Schlepptau loszieht, um ein paar Tage in einer verwaisten, abgelegenen Villa zu verbringen und sich als Haus- und Katzensitterin etwas Geld zu verdienen; Sophie reagiert auf ihre Sorgen genervt-kurzangebunden und lässt sich nicht aufhalten. Wenig später ist sie mit dem Vierbeiner der reichen Besitzerin allein in dem noblen, modernen Anwesen. Sie wird es nicht lange bleiben.

In der Nacht hört Sophie beunruhigende Geräusche: Drei Einbrecher sind in das Haus eingedrungen und machen sich daran, einen Safe zu knacken, der in einer der Wände versteckt ist. Zum Glück hat die Blinde ihr Smartphone griffbereit und kann einen Notruf absetzen. Doch weil das Haus so weit weg von der nächsten Ortschaft liegt, wird es dauern, bis Hilfe ankommt…

Behinderung als Suspense-Motor

Ein Handikap als Spannungselement: Figuren mit Behinderung, die sich gegen scheinbar übermächtige Angreifer wehren müssen, haben ihren festen Platz im Krimigenre, seit Dorothy McGuire als stumme Heldin in „Die Wendeltreppe“ (1945) nicht um Hilfe schreien konnte und James Stewart aus dem Rollstuhl heraus durch „Das Fenster zum Hof“ (1954) einen Mord beobachtete. Eine besondere Vorliebe scheint das Genre für blinde Frauen zu haben: Nach Audrey Hepburn in „Warte, bis es dunkel ist“ und Mia Farrow in „See No Evil“ kämpften u.a. noch Uma Thurman („Jennifer 8“), Michelle Monaghan („Das Penthouse – Gefangen in der Dunkelheit“) und Natalie Dormer („In Darkness“) ohne Augenlicht gegen Einbrecher und Mörder. Die Blindheit dient in solchen Thrillern schlicht dazu, das Kräfte-Gefälle zwischen Täter und Opfer besonders dramatisch wirken zu lassen; im besten Fall spielen die Filme aber auch formal interessant mit der Spannung zwischen Sehen und Nicht-Sehen und den unterschiedlichen Wahrnehmungsräumen ihrer Figuren.

Eine faszinierend widerborstige weibliche Hauptfigur

„See for Me“ von Randall Okita hat diesem Muster zwar nichts grundsätzlich Neues hinzuzufügen, punktet aber mit einer sorgfältigen visuellen Gestaltung und vor allem einer widerborstigen Charakterisierung der weiblichen Hauptfigur: Die blinde Heldin ist hier nicht so angelegt, dass man sie als besonders verletzlich wahrnimmt und sorgenvoll mit ihr mitfiebert, sondern strahlt bockigen Selbstbehauptungswillen aus, mit dem sie sich bisweilen selbst im Weg steht, und wird spätestens im Zuge der ersten direkten Konfrontation mit den Einbrechern zur faszinierend unberechenbaren Größe. Virtuelle Unterstützung bekommt sie dabei von einer weiteren Protagonistin: „See for Me“ ist der Name einer App, mit der Sophie bei Bedarf eine hilfreiche Seele via Smartphone-Kamera zu ihren Ersatz-Augen machen kann, und diese hilfreiche Seele entpuppt sich in der fraglichen Nacht als Ex-Soldatin, deren professionell-kaltblütige Instruktionen Sophie zu ungeahnter Wehrhaftigkeit verhelfen – was sich auf die Gesamtsituation alles andere als deeskalierend auswirkt.

Formal spielt „See for Me“ reizvoll mit Unübersichtlichkeiten: Die Kamera lässt das Anwesen trotz seiner kühl-modernen Großzügigkeit verwinkelt wirken, die nächtliche Dunkelheit konkurriert mit dem Leuchten von Lampen, Taschenlampen oder Smartphone-Screens; zudem wird viel mit nahen Einstellungen gearbeitet, die keine großflächige Orientierung bieten, sowie vereinzelt mit den unterbelichteten, wackligen Subjektiven, die die Soldatin Kelly durch Sophies Smartphone-Kamera sieht. Eine Ästhetik, die wirkungsvoll eine Atmosphäre der Verunsicherung schafft. Das Nicht-Sehen-Können ist hier Fluch und Segen zugleich; Sophie gerät dadurch, dass sie ihre Gegner nicht beziehungsweise nur mühsam durch Kellys Vermittlung sehen kann, immer wieder in Gefahr. Zugleich bieten die Dunkelheit und die vielen Ecken und Winkel des Hauses ihr Schutz vor den Augen der Einbrecher.

Das Smartphone hilft ihr zwar, ihre Behinderung ein Stück weit zu kompensieren, kann durch das Licht seines Bildschirms und seine Geräusche aber auch verräterisch werden. Zusammen mit der moralischen Unübersichtlichkeit eines Home-Invasion-Szenarios, in dem das blinde weibliche Opfer kräftig seinen Teil zur gewaltsamen Eskalation beiträgt, schafft diese Inszenierung eine Variation des bekannten Thriller-Themas, die bis zum Schluss fesselt.

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