Drama | Deutschland 2021 | (6 Folgen) Minuten

Regie: Florian Gaag

Drei 17-jährige Jugendliche in der westdeutschen Provinz des Jahres 1990, allesamt Außenseiter in ihrem piefigen Umfeld, kommen über GIs, die in einer nahegelegenen US-Militärbasis stationiert sind, mit dem Sound der US-Rapmusik in Berührung, was für sie zu einer Art Erweckungserlebnis wird und sie dazu inspiriert, ihre eigene, deutsche Version der Musik zu entwickeln. Die Coming-of-Age-Serie entwickelt eine amüsant-nostalgische fiktive Geschichte des Deutschrap und punktet als detailreiches und gut informiertes Popkultur-Zeitbild sowie durch ein mitreißendes Schauspielensemble und liebevoll gestaltete Charaktere. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
W&B Television
Regie
Florian Gaag
Buch
Florian Gaag
Kamera
Christian Rein
Musik
Freya Arde · Kelvyn Colt · Dexter · Fatoni · Maniac
Schnitt
Anke Greifeneder · Simon Gstöttmayr · Frank J. Miller · Kai Schröter
Darsteller
Samuel Benito (Walter) · Simon Fabian (Nik) · Andrew Porfitz (Ben) · Paula Hartmann (Denise Griebnitz) · Matthias Lier (Lothar Griebnitz)
Länge
(6 Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama | Komödie | Serie

Coming-of-Age-Serie als fiktionalisierte Geschichte des Deutschrap: Drei Jugendliche in der westdeutschen Provinz des Jahres 1990 sind geflasht vom US-Rap und gehen daran, sich die Musik anzueignen.

Diskussion

Die Geburt des deutschsprachigen HipHop aus dem Unbehagen, in der trostlosen Provinz aufwachsen zu müssen. Vom Tankwart zum MC! Die Coming-of-Age-Serie „Almost Fly“ macht sich den Spaß, diese radikale Form der kulturellen Aneignung gleichzeitig als Selbstermächtigung und als Posse aus Dilettantismus, Nerdism und Minnesang zu zeichnen. Weil aber sehr viel Liebe zu den Protagonist:innen im Spiel ist, darf man das daraus resultierende Märchen als charmant und gelungen bezeichnen. Die Fiktion sagt: So ist es nicht gewesen – aber so hätte es gewesen sein können!

Eichfeld Underdogs

Wir schreiben das Jahr 1990. Die Mauer ist gefallen, die deutsche Fußball-Nationalmannschaft schickt sich an, mit einem WM-Titel der Vereinigung von DDR und BRD die Kirsche auf die Torte zu setzen. „Think big“, lautet die Parole des Moments! Überall, nur eben nicht im fiktiven Eichfeld, irgendwo im Nirgendwo der westdeutschen Provinz, wo rein gar nichts passiert. Hier spielt sich der Alltag von Walter (Samuel Benito), Ben (Andrew Porfitz) und Nik (Simon Fabian) ab, die jeweils ihre eigenen Profile und Probleme mit sich herumschleppen.

Da ist der schüchterne, sensible Walter, der von der Aussicht, nach dem Schulabschluss die väterliche Tankstelle zu übernehmen, wie von ihm erwartet wird, nicht gerade begeistert ist. Walter ist verliebt in Sara, das sympathischste Mädchen an seiner Schule. Leider hat Walter das bislang nicht so richtig zeigen können, aber er hat seine Gefühle immerhin schon mal zu Papier gebracht und mit einem Tape vor ihrer Haustür platziert. Eher uncool, auch, weil in Eichfeld 1990 noch die Popper das Sagen haben. Da ist sein bester Freund Ben, ein Afrodeutscher in der Provinz und damit ebenso ein Außenseiter wie Walter. Im Gegensatz zu diesem verfügt Ben allerdings über ein aufreizendes Selbstbewusstsein und ein Selbstverständnis als unwiderstehlicher „Ladies Man“, wenngleich es noch nicht weiter als bis zum Flaschendrehen-Kuss mit seiner Cousine gelangt hat. Ben lebt mit seiner alleinerziehenden Mutter und wüsste gerne mehr über seinen Vater, einen GI und Musiker, der einst in einer amtlichen Funk-Band gespielt hat. Dritter im Bunde ist Nik, ein Nerd und Opfer von kunstsinniger Mutter und erfolglosem Schriftsteller-Vater. Nik lebt in seiner eigenen Welt, und wenn er einmal daraus auftaucht, ist nie ganz klar, ob er nun wirklich seltsam ist oder nur sehr seltsam tut. Eine schillernde Gestalt.

Schicksalhafte Begegnung mit einer amerikanischen HipHop-Crew

Ein interessanter Zug ist, dass das Trio, das sich kurz darauf als „Atomic Trinity“ beim Schulfest blamieren wird, keinerlei Bezug zur Popmusik oder zur Popkultur erkennen lässt. Es braucht tatsächlich die Begegnung mit einer HipHop-Crew, die durch die City von Eichfeld cruiset, um für ein Konzert im „California“-Club in den nahen Kasernen der US-Army zu werben. Allein schon der Anblick dieser coolen Typen im Cabrio eröffnet Walter und Ben eine neue Welt. Das Konzerterlebnis, eine Art Epiphanie, tut dann ein Übriges. Jetzt steht fest, dass „Crazy Walt“ und „MC Ben-C“ Rapper werden wollen! Und weil DJ „Quick Nik“ sich aus dem Lego-Kasten, seinem Kinderplattenspieler und Papas High-end-Hifi-Anlage Turntables bastelt und sogar den handgemachten Loop erfindet, ist man jetzt bereit, die Welt zu erobern oder zumindest die Ladys. Yo!

Die Posen für die Bühne holt man sich von Plattencovern von Ice-T oder Boogie Down Productions oder von MTV, damals noch im Kabelfernsehen. Ein Problem, das Crazy Walt und MC Ben-C jetzt noch teilen, sind ihre mangelhaften Englischkenntnisse. Das Wörterbuch weiß den Worten der einschlägigen Rapper wie Big Daddy Kane oder Run D.M.C. nicht so recht beizukommen. Wer rappt schon so schön böse über Hündinnen? Andererseits haben die beiden Rapper auch wenig mehr zu sagen als „Yeah“ oder „Dope“ oder „Fresh“, was etwas mitleiderregend daherkommt. Oder jedenfalls anders als cool. Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. In diesem konkreten Fall in Gestalt von Denise Griebnitz (Paula Hartmann), die in der DDR aufgewachsen ist, wo bekanntlich legendäre HipHop-Filme wie „Wild Style“ oder „Beat Street“ zu sehen waren und „Breakdance“ als „akrobatischer Schautanz“ gefördert wurde. Als „De-Nice“ bringt Denise reichlich Fachwissen mit in den Westen und kann damit zumindest in Eichfeld reüssieren.

Die Trias aus Rap, Breakdance & Graffiti

Außerdem hat De-Nice auch einen entscheidenden Tipp in petto: Wenn man schon seine eigenen Texte auf Englisch nicht versteht und auch sonst nicht sehr viel von Belang zu sagen hat, warum dann nicht vielleicht besser auf Deutsch rappen? Also den alten Schwenk von den Lords („My mother learned me …“.) zu Ton, Steine, Scherben oder Lindenberg („Ohne deine Moto Guzzi bist du doch nur ein Fuzzi!“) zu wiederholen.

Etwas Diversität und Klassismus kommt dann noch dank Cengiz und Damir ins Spiel. Die sind große Fans von Tony „Scarface“ Montana und durchaus willens, aber leider nicht fähig, ins große Drogengeschäft einzusteigen. Eine Alternative wäre beispielweise, im Jugendhaus probende Nachwuchsbands zu erpressen. Andererseits: Graffiti-Kunst ist auch ziemlich toll – und dafür ist dann auch Talent vorhanden. So kommt eins zum andern, bis die HopHop-Kultur made in Eichfeld komplett ist: Rap, Breakdance, Graffiti. Was jetzt noch fehlt, ist ein cleverer Manager, gerne auch die übliche komische Nummer wie im deutschen Jugend- und Musikfilm seit „Die Heartbreakers“ und „Verschwende deine Jugend“, der hier in Form von Alexander von Eckstein (Laurids Schürmann) ins Spiel kommt (ein Popper, aber auch in der Video-AG der Schule). Und ein Mentor muss her: der afro-amerikanische GI DJ Nasty D, der den Enthusiasmus der Kids zu schätzen weiß und ihnen sein Profi-Equipment überlässt, als er in den Irak-Krieg ziehen muss. Wie gesagt: 1990.

Wie aus Beschränkungen Innovationen werden

Mit „Almost Fly“ ist dem Filmemacher Florian Gaag („Wholetrain“) ein sehr unterhaltsamer, launig-nostalgischer, aber auch gut informierter und detailreicher Sechsteiler gelungen, der einmal mehr die Geschichte einer enthusiastischen Aneignung einer anglo-amerikanischen Jugendkultur erzählt, deren anfänglich naive Limitationen auf kuriosen Umwegen zu Innovationen führen. Ein ausgezeichnetes Ensemble erlaubt das unumgängliche, aber hier sehr liebevoll gestaltete Spiel mit Klischees, die gewissermaßen eine Lo-fi-Variation der Geschichte der Fantastischen Vier, aber nicht von Advanced Chemistry erzählt. Irgendwann sitzt Damir mit dem Abschlusszeugnis herum, stolz wie Bolle und fühlt sich „frei wie Mandela“. Er wird sogleich von Cengiz belehrt: „Mandela ist ein Freiheitskämpfer und du hast Mittlere Reife!“ Cengiz aber will den Aufbruch wagen. Abitur machen. Studieren. Einen ordentlichen Job machen, um den Eltern ein Häuschen zu kaufen. Aus Respekt. Krass, oder?

 

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