The United States of America

Experimentalfilm | USA 2022 | 98 Minuten

Regie: James Benning

Nach seinem 1975 zusammen mit Bette Gordon gedrehten Road Movie „The United States of America“ vermisst der Experimentalfilmer James Benning unter dem gleichen Titel erneut die Landschaft der USA. In einer seriellen Aneinanderreihung statischer Aufnahmen aus je einem Bundesstaat und einer kritisch kommentierenden Tonspur, die Originalgeräusche mit Stimmen unter anderem von Woody Guthrie und Stokely Carmichael collagiert, formiert sich das Bild eines Landes, das von Widersprüchen, mythologischen Erzählungen und Gewalt gleichermaßen gezeichnet ist. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
THE UNITED STATES OF AMERICA
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
James Benning
Regie
James Benning
Buch
James Benning
Kamera
James Benning
Schnitt
James Benning
Länge
98 Minuten
Kinostart
26.05.2022
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Experimentalfilm
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James Benning vermisst die USA geografisch wie mythologisch.

Diskussion

In New Milford, Connecticut, flattert die Flagge der Vereinigten Staaten im Wind. Die Streifen bewegen sich wellenartig und fließend, fast wie ein Laufband; die fünfzig Sterne, weiß auf blauem Grund, ruckeln und zittern. Es braucht schon einen Film von James Benning, um den kontemplativen Raum zu haben, ein so ikonisches Zeichen wie das „Star-Spangled Banner“ über seinen Symbolgehalt hinaus wirklich betrachten zu können. Und zwar ganz konkret: Als ein Bild, in dem zwei gegenläufige Bewegungen am Werk sind.

Das Prinzip der Differenz oder auch Asymmetrie ist im Grunde in jeder der insgesamt 52 Einstellungen von „The United States of America“ auszumachen. So findet sich hinter der ruhigen und auf den ersten Blick nicht sonderlich repräsentativen Schauseite der Bilder immer eine andere Spur eingewoben. Sie verweist auf die Geschichte dieses Landes, seine Umbrüche und Widersprüche, auch auf das Wirken und die Gewalt an Menschen, an Natur und Landschaft.

On the Road again

„The United States of America“ ist neben vielem anderen auch eine Art Sequel oder vielmehr Revision. 1975 porträtierte Benning unter dem gleichen Titel zusammen mit der Filmemacherin Bette Gordon schon einmal die USA, während eines Road-Trips von der Ostküste nach Westen durch die Windschutzscheibe eines Autos gefilmt, begleitet von Musik und lokalen Nachrichtensendungen aus dem Radio. Es sind die letzten Tage des Vietnamkriegs, die letzten US-Streitkräfte verlassen fluchtartig Saigon.

Der aktuelle Film hat die Struktur eines Alphabets. Benning reiht statische Aufnahmen aus je einem Bundesstaat aneinander, von Heron Bay, Alabama, über Gary, Indiana, und Fayette, Mississippi, bis hin zu Kelly, Wyoming. Mit dabei sind auch Puerto Rico und der District of Columbia, die offiziell nicht als Bundesstaaten zählen. Eingeleitet werden die knapp zweiminütigen, präzise kadrierten Einstellungen durch schwarze Texttafeln, die die Orte und Bundesstaaten benennen.

Benning vermisst die Vereinigten Staaten über ihre Landschaften und industriellen Umgebungen; eine Stadtansicht bleibt singulär und wirkt fast wie ein Fremdkörper. Auch Menschen sind selten zu sehen, sie tauchen höchstens als Miniaturen auf. Ein ausgetrocknetes Flussbett, ein Gefängniskomplex, eine Unterführung, in der Obdachlose ihre Zelte aufgeschlagen haben, blühende Obstbäume, schneebedeckte Wälder, Wüsten und Canyons, die Kühltürme eines Kraftwerks, eine Ölraffinerie, ein durch Stacheldraht abgezäuntes militärisches Übungsgelände, die Ruinen einer Tankstelle im Nirgendwo.

Spannungen, Brüche, Gegensätze

Das scheinbar Periphere erweist sich dabei als historisch aufgeladen, jede Aufnahme ragt tief in die Vergangenheit und spricht gleichzeitig in eine gesellschaftliche Gegenwart hinein, die berechtigterweise, wenn auch manchmal verkürzt als „gespalten“ bezeichnet wird. Die Geschichte der Landnahme, der Ausrottung und Entrechtung der Ureinwohner ist in die Bilder ebenso eingetragen wie die ökonomischen Entwicklungen.

Die Tonspur ist eine Mischung aus Originalgeräuschen und Nachbearbeitung. Zu hören sind Wind, Vogelgezwitscher und Grillengezirpe, oft begleitet von Autogeräuschen in der Ferne. Ebenso präsent sind Maschinengeräusche. Kaum eine Einstellung kommt ohne irgendein Brummen, Summen oder Fiepen aus. Vereinzelt legen sich auch singende und sprechende Stimmen über die Bilder, teilweise so leise, als hätten sie sich heimlich dazugeschaltet: Karen Carpenters sehnsuchtsvolle Ballade „Close to You“, Stokely Carmichael, der über die Wichtigkeit einer Bewegung der Schwarzen spricht, Woody Guthries legendärer Folksong „This Land Is Your Land“, das in seiner mehr als achtzigjährigen Geschichte schon von den unterschiedlichsten Präsidenten in den Dienst genommen wurde (von George W. Bush bis hin zu Joe Biden) und manchen als zweite Nationalhymne gilt. Aber auch Martin Luther King, Dwight D. Eisenhower und als gegenwärtigste Stimme Alicia Keys. Wie die Bildersammlung erzählt auch die Toncollage von einem Land, dessen Erodierungen und Risse der Behauptung „vereinigt“, die es so stolz im Namen trägt, beständig widersprechen.

Konstruierter als gedacht

Wie repräsentationskritisch „The United States of America“ tatsächlich ist – oder sollte man eher sagen repräsentationsschelmisch – zeigt indes erst der Abspann. Retrospektiv gewinnt der Film eine andere Bedeutung und entpuppt sich als weitaus konstruierter als gedacht. Man kann sich die USA auch aus einem einzigen Bundesstaat zusammenbauen.

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