Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten

Drama | Mexiko 2022 | 160 Minuten

Regie: Alejandro G. Iñarritu

Ein mexikanischer Doku-Filmer, der in den USA lebt, kehrt mit seiner Frau und den fast erwachsenen Kindern nach Mexiko zurück. Der Aufenthalt löst eine Identitätskrise aus, die seine berufliche wie private Existenz auf den Prüfstand stellt. Aber auch die Identität Mexikos zwischen kolonialer Vergangenheit und durch Kartellgewalt geprägter Gegenwart sowie die Reibung am Nachbarland USA spielen eine wichtige Rolle. Auf den Spuren von Fellinis „Achteinhalb“ entwirft Alejandro G. Iñárritu mit schwelgerisch-schönen Bildern und absurd-surrealen Einfällen eine sehr persönliche, aber auch fantasmagorische Bestandsaufnahme der Gegenwart. Die Vielfalt der Affekte und Ambitionen geht dabei mitunter aber auf Kosten tragfähiger Konflikte und der politischen Aussagekraft. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
BARDO, FALSA CRÓNICA DE UNAS CUANTAS VERDADES
Produktionsland
Mexiko
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Estudios Chrubusco Azteca S.A./Redrum
Regie
Alejandro G. Iñarritu
Buch
Nicolás Giacobone · Alejandro G. Iñarritu
Kamera
Darius Khondji
Musik
Bryce Dessner
Schnitt
Alejandro G. Iñarritu
Darsteller
Daniel Giménez Cacho (Silverio Gama) · Griselda Siciliani (Lucia) · Ximena Lamadrid (Camila) · Andrés Almeida (Martin) · Meteora Fontana (Meteora)
Länge
160 Minuten
Kinostart
17.11.2022
Fsk
ab 16
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Komödie
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Schwelgerisch-fantasmagorisches, autobiografisch angehauchtes Porträt eines mexikanischen Dokumentarfilmers in der Krise, mit dem sich Alejandro G. Iñárritu an einer Bestandsaufnahme der Gegenwart abarbeitet.

Diskussion

Früher arbeitete er als Journalist, jetzt dreht er Dokumentarfilme; damals lebte er in Mexiko, nun wohnt er in Los Angeles; einst war er jung und viril, jetzt ist er zwar noch nicht alt und schwach, wird es aber bald sein. Auf der Tanzfläche ist Silverio (Daniel Giménez Cacho), die Hauptfigur von „Bardo, die erfundene Wahrheit einer Handvoll Wahrheiten“, inzwischen von vielen deutlich jüngeren Körpern umgeben, die weitaus mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen als sein eigener - und doch versteht es der Film, vermittels eines abrupten Musikwechsels und einer kunstvollen Tanzchorografie, Silverio noch einmal zum Mittelpunkt der Welt zu machen. Was er in dem Film von Alejandro G. Iñárritu freilich ohnehin die ganze Zeit ist.

Aus der Position der Überlegenheit

Damit ist das gleichzeitig psychologische und dramaturgische Spannungsfeld, in dem sich der Film bewegt, bereits abgesteckt. „Bardo“, der beim Filmfestival Venedig 2022 Premiere feierte und von der Kritik – für den Regisseur eine ungewohnte Erfahrung –, eher zwiespältig aufgenommen wurde, porträtiert einerseits einen Mann, der sich mit fortschreitendem Alter zahlreicher kleiner und größerer Demütigungen und Unsicherheiten zu erwehren hat; dem andererseits aber von Iñárritu noch einmal die ganz große Bühne bereitet wird, angefangen mit der ersten Einstellung, in der die Kamera, vermutlich aus Silverios visueller Perspektive, über den Boden gleitet und dreimal zu schwerelosen Sprüngen abhebt. Zweimal sinkt dieser Körperlichkeit und Filmtechnik in eins setzende Blick wieder zu Boden, doch beim dritten Mal bleibt er oben, weit über der Erde, in die Ferne blickend. Das wirkt ein wenig wie der „god mode“ in Computerspielen, der die Spielerin unverwundbar macht, ihr Spezialfähigkeiten verschafft, sie aber auch in eine Position der Distanziertheit gegenüber der Welt versetzt; in eine Position, die leicht in Narzissmus umschlagen kann.

Wenn die schwebende Kamera die Schwerkraft eliminiert, dann ist das die erste, aber längst nicht die letzte Überschreitung einer an der Alltagswahrnehmung orientierten Filmsprache. Mal wird ein neugeborenes Baby, weil es sich mit der Welt, wie sie nun einmal ist, nicht anfreunden kann, schnurstracks in den Mutterleib zurückgeschoben, mal schrumpft Silverio beim Gespräch mit seinem (toten) Vater auf Kindergröße zusammen und blickt, wie einst in seiner Jugend, zu seinem riesenhaften Erzeuger auf, mal schneidet er einem aus seiner Sicht unverschämten Kritiker buchstäblich das Wort ab - die Lippen des blasierten Wichts bewegen sich weiter, aber die Tonspur registriert nicht mehr, was er sagt. Passend dazu bewegt sich der Film geschmeidig zwischen diversen Realitätsebenen, webt Erinnerungs- und Traumbilder sowie allerlei Symbolismus in den Bilderfluss.

Eine Filmästhetik des Absurden

Pate für ein derart entgrenztes audiovisuelles Erzählen stehen der poetische Realismus der lateinamerikanischen Literatur oder auch eine Filmästhetik des Absurden, wie man sie insbesondere mit osteuropäischen Kinematografien verbindet. Einige der harscheren Brüche mit dem Realitätsprinzip haben einen politischen Gehalt: Wenn um Silverio herum plötzlich Passanten reihenweise und ohne erkennbaren Grund leblos zu Boden fallen, verweist das allegorisch auf die Opfer der Kartellgewalt in Mexiko; kurz darauf erklimmt der nimmermüde die Ungerechtigkeit der Welt thematisierende Filmemacher einen pyramidenförmigen Leichenberg und wird auf dessen Gipfel vom Häuptling eines indigenen Stammes über die historische Gewalt aufgeklärt, auf der der moderne Nationalstaat Mexiko errichtet ist.

In solchen bei aller filmtechnischer Experimentierfreude mit heiligem Ernst durchexerzierten Geschichtslektionen schrammt der Film haarscharf an der Selbstparodie vorbei - was nicht unbedingt nur gegen ihn spricht. Vielleicht zeichnet „Bardo“ in solchen Momenten, wenn auch vermutlich eher unfreiwillig, das ehrliche Bild eines sogenannten „engagierten Kinos“, das sich allzu oft in selbstgerechten Posen rhetorisch radikaler Sozialkritik gefällt, ohne die eigene privilegierte Sprecherposition aufgeben zu wollen - womit, das kommt hinzu, ohnehin nicht allzu viel gewonnen wäre. Sprecherpositionen mögen sich wandeln, was am Ende bleibt, sind Leichenberge.

Doppelte Heimatlosigkeit eines Migranten

Stärker ist „Bardo“ dennoch immer dann, wenn sich die mäandernde Erzählung näher an Silverios Lebensrealität hält. An der doppelten Heimatlosigkeit eines Migranten etwa, der von den beiden Ländern, zwischen denen er sich bewegt, immer zuerst die negativen Seiten wahrnimmt; oder an den möglicherweise mit dieser Heimatlosigkeit verknüpften Selbstzweifeln eines arrivierten Künstlers, der im Moment seines größten öffentlichen Triumphes auf die Toilette flüchtet; oder, ganz besonders, an den kleinen Krisen aber auch Glücksmomenten im familiären Alltag. In Silverios Gesprächen mit seinen beiden Kindern, einer selbstbewussten, auf Unabhängigkeit vom Elternhaus wert legenden Tochter und einem etwas jüngeren, sich seines Platzes in der Welt noch nicht gar so sicheren Sohn, fällt denn auch aller filmtechnischer Wirbelwind in sich zusammen; plötzlich sind da nur noch zwei Menschen, die in langen, unaufdringlich kadrierten Einstellungen einander zu verstehen versuchen.

Systematisch unklar bleibt bei all dem das Verhältnis von Silverio und Iñárritu. Ein im ganz engen Sinne autobiografischer Film ist „Bardo“ nicht; aber reiner Zufall sind die zahlreichen Parallelen zwischen Hauptfigur und Regisseur - die Berufswahl, das Herkunftsland, der Wohnort, die Anzahl der Kinder - erst recht nicht. Anders als sein Freund und Kollege Alfonso Cuarón mit dem thematisch gleichwohl nicht ganz unähnlichen „Roma“ kehrt Iñárritu mit „Bardo“ auch nicht in eine Welt der Kindheit zurück, sondern versucht sich an einer ins Fiktive bis ins Fantasmatische erweiterten Bestandsaufnahme in der Gegenwart.

Kopfüber ins wilde Getriebe

Dass das Ergebnis die klassizistische Eleganz und auch die soziopolitische Scharfsichtigkeit von „Roma“ vermissen lässt, ist vielleicht nur folgerichtig. Stattdessen stürzt sich „Bardo“ kopfüber in eine Vielheit keineswegs stets harmonisch aufeinander abgestimmter Affekte und Ambitionen. Das Ergebnis mag bisweilen aufgeplustert wirken und ist mit Sicherheit nicht frei von Eitelkeit; gleichzeitig ist „Bardo“ aber auch ein Film, der sehr offensichtlich einem tiefen inneren Bedürfnis seines Regisseurs entspringt.

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