Der Russe ist einer, der Birken liebt

Drama | Deutschland 2022 | 105 Minuten

Regie: Pola Beck

Eine sprachbegabte Kosmopolitin führt mit Ende zwanzig ein wildes, aufregendes Leben, das von einem Liebhaber zur nächsten Geliebten springt und sich weder auf Regeln, Verbindlichkeiten noch sonst etwas festlegen lassen will. Hinter ihren aufgesetzten Posen von Unabhängigkeit verbergen sich tiefe Verlustängste und uneingestandene Härten. Die achronologische Verfilmung des gleichnamigen Romans fokussiert mit ihrer begnadeten Hauptdarstellerin ganz auf die widersprüchliche Hauptfigur, driftet auf Dauer aber immer mehr ins Melodramatische ab und bleibt damit allzu sehr an der Oberfläche einer selbstzerstörerischen Irrfahrt hängen. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Augenschein Filmprod./ZDF - Das kleine Fernsehspiel
Regie
Pola Beck
Buch
Burkhardt Wunderlich
Kamera
Juan Sarmiento G.
Musik
Johannes Repka
Schnitt
Philipp Thomas
Darsteller
Aylin Tezel (Mascha) · Sohel Altan Gol (Cem) · Slavko Popadic (Elias) · Yuval Scharf (Tal) · Bardo Böhlefeld (Sami)
Länge
105 Minuten
Kinostart
03.11.2022
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Drama um eine kompromisslose Kosmopolitin, die sich die Welt mit viel Ironie vom Leib hält und scheinbar unfähig ist, sich auf irgendetwas festzulegen.

Diskussion

Vor zehn Jahren feierte die 38-jährige Olga Grjasnowa, die als elfjähriges Mädchen mit ihrer russisch-jüdisch-aserbaidschanischen Familie als sogenannte „Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland eingewandert ist, mit ihrem Debütroman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (2012) einen großen Erfolg. Die gleichnamige Verfilmung des Lebens einer jungen Simultandolmetscherin, die einen ähnlich multiethnischen Hintergrund hat wie Grjasnowa, erschließt sich den Text nach dem zunächst erstaunlich gut funktionierenden Prinzip: ein Baustein führt zum nächsten.

Rückblenden zwingen dazu, die unchronologischen Ereignisse in der Gegenwart wie ein Mosaik zusammenzusetzen. Kurze Szenen im Club, in der Synagoge, am Strand in Israel, beim Sex mit wechselnden Männern und Frauen charakterisieren nach und nach die 29-jährige Mascha als sprachbegabte Nomadin auf dem Weg zu einem Job bei der Uno in Genf. Sie hat alle Grenzen hinter sich gelassen und heißt jedes Abenteuer willkommen, das ihr eine Existenz in der Freiheit westlicher Demokratien bietet.

Erdrückt von Trauer und Melancholie

Offenbar sind die Zwänge, in denen ihre Eltern und Großeltern gefangen waren, vom Bürgerkrieg über Diktatur bis zu Pogromen, in ihre eigene DNA eingegangen. Mascha behauptet zwar, dass Herkunft und Identität sie nicht interessieren, doch der Alltagsrassismus ist ihr hin und wieder einen sarkastischen Kommentar wert. Umso intensiver durchlebt sie ihre Beziehungen, auch mit arabischen Männern, was ihr die Kenntnis einer weiteren Sprache beschert. Dabei wirkt sie mal selbstbewusst bis zur Arroganz, mal wie eine orientierungslos Ertrinkende, erdrückt von Trauer und Melancholie; eine Frau, das sich mit permanenter erotischer Ablenkung über Wasser zu halten versucht.

Hinter ihrer aufgesetzten Pose der Unabhängigkeit und Härte verbergen sich nicht eingestandene Verletzungen, glaubt ihre israelische Freundin, eine Ex-Soldatin und eine von vielen Menschen, die ihr näher kommen, obwohl sich Mascha nicht auf sie festlegen will. Aus Angst, wieder einen Verlust zu erleiden?

Mit Gott einen Deal abschließen

Regisseurin Pola Beck hat die Hauptrolle mit Aylin Tezel besetzt, mit der sie schon bei ihrem Debütfilm „Am Himmel der Tag“ (2012) zusammengearbeitet hat. Tezel stürzt sich in diese Rolle wie ein Kamikaze, der den Absturz in Kauf nimmt, ist schroff und verletzend, als ihr bio-deutscher Freund vorschlägt, zu ihrer Verwandtschaft nach Tel Aviv zu fahren. Ihr Gesicht ist dann so angespannt, als wollte sie gleich in körperliche Gewalt abdriften. Einige Szenen später verströmt ihre Mimik pures Entsetzen, als sich der Zustand des nach einer Sportverletzung ins Krankenhaus gebrachten Freundes verschlechtert. Obwohl Mascha auf Hebräisch mit Gott einen Deal abschließt, kann sie seinen Tod nicht verhindern.

Von da an schwebt die Metapher einer nicht heilenden Wunde tonnenschwer über dem ins Melodramatische abdriftenden Films. Dass sich Mascha mit ihren schwankenden Emotionen selbst im Weg steht, hat man da längst begriffen. Es ermüdet zunehmend, ihr auf ihrer Irrfahrt zu folgen, zumal sie unentwegt nach einer Zuflucht sucht, im Beruf, in der Liebe, in Israel.

Die Flut an Widersprüchen, die ihre Person unter Strom setzen, scheinen ihr nicht bewusst zu sein. Nur dank der nie nervös agierenden Kamera, die sich immer wieder in die Zeit anhaltende Lichtspiele versenkt, lässt sich dieser selbstzerstörerisch brodelnde Vulkan als eine sehr zeitgenössische Figur ertragen.

Nie endende Bettgeschichten

Dass Mascha in den vergangenen zwanzig Jahren im deutschen Kino viele Vorläuferinnen hatte, von Thomas Durchschlags „Allein“ bis zu David F. Wendts „Feuchtgebiete“, lässt sie auch als Variation eines bestimmten Frauentypus erscheinen, der auch ohne den Ballast aus Holocaust, Verfolgung, Kultur- und Sprachwechsel die gleichen Sackgassen als Lebenslösungen gefunden hat. Allerdings ist es genau dieser sozio-kulturelle Ballast, in den man lieber eingetaucht wäre als in Maschas von Machtspielen und Desinteresse am Gegenüber geprägten, nie endenden Bettgeschichten.

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