Er flog voraus - Karl Schwanzer / Architektenpoem

Dokumentarisches Porträt | Österreich 2022 | 73 Minuten

Regie: Max Gruber

Der österreichische Architekt Karl Schwanzer (1918-1975) prägt mit seinen innovativen Gebäuden, unter anderem das BMW-Hochhaus in München oder das Wiener Kunstmuseum, die Nachkriegsarchitektur in Österreich und darüber hinaus. Nach einer von seinem Sohn in Auftrag gegebenen Biografie zeichnet der kurzweilige, schwungvoll arrangierte Film das Leben und Wirken eines manischen Baukünstlers nach, der als Protagonist einer „materialisierten Poesie“ über 600 Werke realisierte. Sein selbstgewählter Auftrag, mit seinem Schaffen Menschen glücklich zu machen, ging in seinem Fall aber nicht auf; Schwanzer nahm sich mit 57 Jahren das Leben. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ER FLOG VORAUS
Produktionsland
Österreich
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Mischief Films
Regie
Max Gruber
Buch
Max Gruber
Kamera
Reinhard Mayr · Josef Philipp · Stephan H. Wieder · Christian Dimitrius
Musik
Moritz Heidegger
Schnitt
Philipp Mayr
Darsteller
Nicholas Ofczarek (Karl Schwanzer)
Länge
73 Minuten
Kinostart
16.02.2023
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarisches Porträt | Künstlerporträt
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt.)
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Dokumentarfilm über den österreichischen Architekten Karl Schwanzer (1918-1975), der mit seinen futuristischen Bauten die Nachkriegsarchitektur stark beeinflusste.

Diskussion

Zuerst bestellte Martin Schwanzer, der Sohn des Architekten Karl Schwanzer, nach einer Schenkung ans Wien Museum eine Graphic Novel mit dem Titel „Schwanzer. Architekt aus Leidenschaft“. Darin beschäftigten sich der Zeichner Benjamin Swiczinsky und sein Co-Autor Max Gruber mit der Biografie des österreichischen Architekten, der 1975 den Freitod wählte. Der Semi-Dokumentarfilm „Er flog voraus“ ist eine zweite Auftragsarbeit, wieder unter der Regie von Max Gruber.

An Zeitzeugen, die sich an Karl Schwanzer erinnern, fehlt es nicht, darunter viele Mitarbeiterinnen und zeitgenössische Kommentatoren. Unter den ehemaligen Studenten finden sich Wolf D. Prix, heute mit seiner Firma „Coop Himmel(b)au“ selbst global als Architekt tätig ist, aber auch die Kollektive „Zünd up“, „Salz der Erde“ oder „Missing Link“, deren Mitglieder bei Schwanzer in die Lehre gingen. Sie erzählen vom Einfluss des Architekten, Professors und Büroleiters aus kleinen Verhältnissen, dem als perfektionistischem Workaholic auch ungewöhnliche Ideen willkommen waren und der als Manager sein Team zu innovativen Höchstleistungen anpeitschte. Schwanzer wollte auffallen und wählte deshalb mal filigrane, mal kurvenreiche, auf Zylinder oder futuristische Formen setzende Gebäudetypen, die in der Nachkriegsmoderne Österreichs solitär waren.

Mit manischem Furor

Natürlich gibt es auch Einblicke in seine realisierten Bauprojekte, etwa das Philippshaus, die österreichische Botschaft in Brasilia oder das heute Belvedere 21 genannte Wiener Kunstmuseum. Das Opus magnum, das ikonische BMW-Hochhaus in München, erhält eine Sonderstellung, inklusive der Hintergrundgeschichte oder Verweisen auf „Filmauftritte“ wie in „Suspiria“ von Dario Argento oder dem dystopischen Actionklassiker „Rollerball“ von Norman Jewison. Dass Schwanzer ein ganzes Stockwerk des BMW-Komplexes auf eigene Kosten in den Bavaria-Filmstudios in Geiselgasteig als Modell nachbauen ließ und mit schauspielernden Laien füllte, um die BMW-Manager für seinen Entwurf zu gewinnen, zeugt von dem manischen Furor, mit dem er seiner Profession nachging. Dazu gehörte auch, dass er den Bau von oben nach unten errichtete. An Stahlseilen hängende Geschosse wurden am Boden fertiggestellt und danach hochgezogen, ganz nach dem Prinzip von Hängebrücken.

Wenn der Architekturkritiker Gerhard Matzig im Gespräch mit Thomas Girst, dem Leiter des Kulturengagements der BMW Group, über die Wirkung von Architektur auf menschliche Emotionen spricht, fragt man sich, warum Schwanzers selbstgewählter Auftrag, Menschen glücklich zu machen, in seinem eigenen Fall nicht aufgegangen ist. „Aber hat ein Haus nur die Funktion, den Menschen drinnen zu dienen – oder nicht auch den vielen, die es von außen erleben und anzusehen haben? Das Haus als Erscheinung, wie es die Umwelt bestimmt, gehört uns allen“, lautete Schwanzers Credo. Pflegte er einen nicht zu bändigenden Architektenbegriff, der allzu waghalsig zwischen Heroismus und egomanischer Überforderung schwankte? Musste dem Leben im Flugzeug und mit Aufträgen außerhalb von Europa nicht ein zu hoher Tribut gezollt werden, während Schwanzer parallel ein 100-köpfiges Team in Wien leitete? Verlor er deshalb trotz unzähliger Erfolge letztlich den Kampf gegen biedere und unbewegliche Bauherren?

Er wollte Spuren hinterlassen

„Dass niemand an die Denkmäler von morgen denkt!“, sagte Schwanzer einmal. „Das ist unser Auftrag, den wir von der Geschichte bekommen haben – dass wir Architekten Spuren hinterlassen.“ Der Schauspieler Nicholas Ofczarek tut dies mit bewundernswerter Zurückhaltung. Er übernimmt den Part des Porträtierten. Gruber lässt ihn aus Schwanzers Buch „Architektur aus Leidenschaft“ vorlesen und mit Hornbrille und Nadelstreifenanzug durch den österreichischen Expo-58-Pavillon, die Pfarrkirche Auferstehung Christi oder die Erweiterung der Kapuzinergruft als Versinnbildlichung der Gedankenwelt des Architekten flanieren.

Dazu gesellen sich historisches Fernsehmaterial und bislang unveröffentlichte Super-8-Filme aus dem privaten Archiv von Schwanzer, schwungvoll und kurzweilig arrangiert und mit überaus passend „euphorisierender“ Musik unterlegt. Mitunter wird auch deutlich, dass Karl Schwanzer den Denkmalschutz für überbewertet hielt, da dieser dem Fortschritt im Wege stehe. Aus dem gleichen Geist rührte auch seine Bereitschaft zur Materialverschwendung. Nachhaltiges und ressourcenschonendes Bauen? Fehlanzeige. Er war ein Mann seiner Zeit und doch auch ein Getriebener einer „materialisierten Poesie“, der den Geniekult so weit verinnerlicht hatte, dass eine Verschnaufpause in seinem Fall den ultimativen Ausstieg bedeutete: Er flog voraus.

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