Das Tier im Dschungel

Drama | Frankreich/Belgien/Österreich 2023 | 100 Minuten

Regie: Patric Chiha

1979 begegnen sich ein junger Mann und eine junge Frau in einem Pariser Nachtclub und freunden sich miteinander an. Die Überzeugung des Mannes, im Leben für etwas Außergewöhnliches bestimmt zu sein, verhindert jedoch, dass sie ein Paar werden, auch wenn sie sich während der folgenden zwanzig Jahre immer wieder in dem Club treffen. Die lose Übertragung einer Novelle von Henry James nutzt die Beziehung ohne Fortschritt, um vor dem Hintergrund geschichtlicher Wendepunkte den Wandel von Musik, Kostümen und Tanzformen zu zeigen. Mit inszenatorischer Raffinesse beschwört der Film eine traumähnliche, verfremdete Stimmung und überlässt sich dem energetischen Rhythmus des Club-Sounds. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA BÊTE DANS LA JUNGLE
Produktionsland
Frankreich/Belgien/Österreich
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Aurora Films/Frakas Prod./WILDart Film
Regie
Patric Chiha
Buch
Patric Chiha · Axelle Ropert · Jihane Chouaib
Kamera
Céline Bozon
Musik
Yelli Yelli · Dino Spiluttini · Florent Charissoux
Schnitt
Karina Ressler · Julien Lacheray
Darsteller
Anaïs Demoustier (May) · Tom Mercier (John) · Béatrice Dalle (Die Türsteherin) · Martin Vischer (Pierre) · Sophie Demeyer (Alice)
Länge
100 Minuten
Kinostart
05.10.2023
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Historienfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Mehr als zwanzig Jahre lange begegnen sich ein Mann und eine Frau immer wieder in einem Pariser Club, ohne ein Paar zu werden.

Diskussion

An Béatrice Dalle kann sich niemand vorbeistehlen. Im schwarzen Umhang wacht die frühere „Betty Blue“-Ikone als Türsteherin über den Eingang des Nachtclubs, in dem der Film „Das Tier im Dschungel“ fast zur Gänze spielt. Etwas Außerweltliches umgibt das schroffe Gesicht und den leicht schiefen Mund mit Dalles markanter Zahnlücke. Und ihre rauchige Stimme setzt den Tonfall, wenn sie ihre Rolle als Erzählerin einnimmt. Ihr Job sei es, Gesichter zu lesen, erklärt die Wächterin, nachdem sie den jungen Mann im roten Pullover an der Menge vorbei in den Pariser Club gewunken hat, obwohl dem der Sinn so gar nicht nach Disco zu stehen scheint.

Warten auf ein Ereignis

„Ich erinnere mich an diesen Typen, der gehetzt wirkte. Er sah aus, als ob er unter etwas litt, das niemand verstehen konnte“, verrät die Türsteherin und trifft damit ins Schwarze. Denn John (Tom Mercier) hält sich abseits von den Tanzenden auf und sagt über sich, dass er eigentlich in nichts wirklich gut sei. Dennoch kehrt er nach seinem ersten Besuch im Jahr 1979 immer wieder in den Club zurück und wird zum jahrelangen Stammgast, nachdem er einer Frau aus einer sich ungleich besser amüsierenden Clique begegnet ist. Der munteren May (Anaïs Demoustier) fällt der ungewöhnlich steife Beobachter gleich ins Auge. Sie spricht ihn an und erinnert ihn an eine frühere Begegnung zehn Jahre zuvor. Von ihrem damaligen Kontakt weiß John zwar nichts mehr, dennoch gilt noch immer, was er ihr seinerzeit über sich anvertraut hat und was sie nun wiederholt: Er sei so passiv, weil er überzeugt ist, dass ihm einmal etwas wirklich Außergewöhnliches widerfahren werde. Sein Leben versteht er als Warten auf dieses eine Ereignis.

In der 1903 veröffentlichten Novelle „The Beast in the Jungle“ von Henry James ist dies ein nicht untypischer Konflikt für die finanziell sorglosen, aber unsteten Figuren. In der freien Filmadaption von Patric Chiha reiben sich die Leidenschaftslosigkeit des Protagonisten und die Dynamik des Clubs allerdings aneinander. Der israelische Schauspieler Tom Mercier gibt John ein konsequent unbeteiligtes Aussehen, das ihn von Beginn an als eine unwirkliche, nicht zu greifende Person erscheinen lässt. Was offensichtlich gewollt ist, denn der Nachtclub ist als Schauplatz nicht weniger jenseits aller Realität angelegt. Die Vorhänge am Eingang könnten direkt aus den Filmwelten von David Lynch stammen und die Türsteherin und ein nur Richard Wagner hörender Toilettenmann wachen wie exzentrische gute Engel über die Menschen auf und neben der Tanzfläche.

Diese ergeben sich den hämmernden Beats und dem grellen Licht, unter ihnen die von Anaïs Demoustier aufgeweckt gespielte May, die sich bei den wöchentlichen Ausflügen in den Club sichtlich gerne geschminkt und schick gekleidet präsentiert. Ganz anders als John, der immer im identischen Anzug erscheint und seine Distanz gegenüber Mays Entourage bewahrt. Nichtsdestotrotz werden May und er vertrauter miteinander, je mehr Zeit verstreicht. Denn Patric Chiha legt den Film über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren an.

Die Zeit verstreicht

Entscheidend für die Wirkung von „Das Tier im Dschungel“ ist die Kunst, die pulsierende Stimmung des Clubs wiederzugeben und diese eng mit der verstreichenden Zeit zu verknüpfen. Auf das Zeitgeschehen wird immer mal wieder kurz angespielt, wenn Mitterrands Wahlsieg, die AIDS-Zeit, der Mauerfall oder 9/11 als Informationen die Figuren erreichen; doch die Zeit-Marken sind für den Film vor allem wichtig, um ein paar Jahre weiterspringen zu können. Auch vor dem Club macht der Zeitenwandel nicht halt: Kostüme und Musik passen sich dem wechselnden Geschmack an, gehen von der Disco-Welle der späten 1970er-Jahre zu House und Synthie-Pop und schließlich in die Techno-Raves der 1990er-Jahre über.

Patric Chiha setzt dabei keine originalen Songs ein, sondern hat Musikstücke in den jeweiligen Stilen von Yelli Yelli & Florent Charissoux sowie Dino Spiluttini neu komponieren lassen, was den Eindruck einer nicht ganz verlässlichen Rückschau unterstreicht, bei der Erinnerungen sich überlagern und zusammenfließen.

Denn „Das Tier im Dschungel“ will trotz seiner konkreten zeitlichen Verankerung kein realistisches Zeitbild entwerfen. Die vergehende Zeit wird vor allem im Kontrast zum stagnierenden Verhältnis im Zentrum des Films eingesetzt. John verharrt in seinem Wartezustand, und auch Mays Versuche, ihn aus seiner Passivität zu wecken, werden mit der Zeit schwächer. Dabei verändert sich ihr persönliches Umfeld: May präsentiert irgendwann ihren Freund Pierre, mit dem sie eine solide, wenn auch anscheinend nicht erfüllende Beziehung führt. Und auch John geht zeitweise auf die Avancen einer Garderobiere ein.

Nach und nach verschwinden die Mitglieder aus Mays Clique und überlassen das seltsame Paar sich selbst. Mit Beginn der Techno-Zeit sind die beiden die ältesten Club-Besucher, die skeptisch auf die Ekstase der Tanzenden blicken und spüren, wie viel Lebenszeit sie schon mit ihrem Warten verloren haben.

Im Rausch der Nächte

Die Inszenierung folgt auch in dieser Phase dem Grundsatz, weniger eine stringente Erzählung zu entfalten, als vielmehr Stimmungen heraufzubeschwören. Der Film gerät mehr und mehr selbst in Trance und wird zunehmend dunkler. Und John und May werden immer geisterhafter. Getreu der Vorlage von Henry James breitet sich im Verlauf von „Das Tier im Dschungel“ eine gewisse Resignation aus, je länger das große Ereignis auf sich warten lässt.

Doch Chiha steuert einer zu bedrückenden Eindeutigkeit konsequent entgegen. Der Ton macht die Musik, und in seinem traumspielhaften Film sind es keine erzählerischen Paukenschläge, die das Schicksal der Protagonisten bestimmen, sondern der verlässlich an-, ab- und erneut anschwellende Sound der Club-Nächte. Solange dieser nicht endgültig verstummt ist, vermag auch die Anteilnahme am Schicksal von John und May nicht zu verschwinden.

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