Unschuldig - Der Fall Julia B.

Drama | Deutschland 2022 | 179 (89,90) Minuten

Regie: Ute Wieland

Fünf Jahre, nachdem eine Lehrerin wegen Mordes an einem Schüler verurteilt wurde, tauchen Beweise für ihre Unschuld auf, die eine Revision des Urteils nach sich ziehen. Die freigelassene Lehrerin muss jedoch auch weiterhin mit Beschuldigungen leben und findet nur bei einer Freundin Unterstützung. Derweil kämpft auch der Kommissar, der den Todesfall neu untersucht, nach einem traumatischen Erlebnis mit seinen Dämonen. Zweiteiliger Krimi, in dem eine klassische Tätersuche in das Porträt einer feindseligen, verschlossenen Gemeinschaft eingebettet ist. Dabei arbeitet der Film versiert mit Horroranleihen wie auch mit Gesellschaftskritik und überzeugt mit präzise gezeichneten Figuren. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Filmpool Fiction
Regie
Ute Wieland
Buch
Florian Oeller
Kamera
Eeva Fleig
Musik
Oli Biehler · Eckart Gadow
Schnitt
Dagmar Lichius
Darsteller
Emily Cox (Julia Brandt) · Thomas Loibl (Max Kauth) · Jan Krauter (Jan Brandt) · Katharina Marie Schubert (Katrin Voss) · Christina Große (Jessica Strobeck)
Länge
179 (89,90) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Krimi
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Zweiteiliger Krimi um eine Lehrerin, die nach einer Verurteilung als Mörderin eines Schülers als unschuldig entlassen wird, aber weiterhin mit Anfeindungen konfrontiert wird.

Diskussion

Ist dieser Zweiteiler ein Horrorfilm? Gemäß gängigen Genrekonventionen sicherlich nicht. Und doch präsentieren bereits die ersten Minuten Momente des (seelisch) Abgründigen, die unter Spannung setzen und zu erhöhter Aufmerksamkeit zwingen. Schnell drängt sich der Eindruck auf, dass hier vielleicht nichts so ist, wie es scheint, und alles mindestens zwei Seiten hat. Dazu trägt auch der visuell raffiniert realisierte Vorspann von „Unschuldig – Der Fall Julia B.“ bei, der zu anspruchsvoller musikalischer Begleitung den Charakter des Films als Land- und Landschaftskrimi der Ostseeküste bestimmt.

Ein beschauliches Leben, jäh auf den Kopf gestellt

Das Fernsehspiel von Ute Wieland ist kein Gerichts- oder Justizdrama; entsprechende Szenen sind auf ein Minimum reduziert. Eher mutet es wie die Darstellung und Durchleuchtung einer True-Crime-Story englischer Provenienz an, ohne dass man sogleich erfährt, ob „Der Fall Julia B.“ nach einer wahren Geschichte erzählt wird. Julia Brandt (Emily Cox), eine Lehrerin um die dreißig, unterrichtete mit Engagement an einer konfliktträchtigen Schule. Vor fünf Jahren wurde ihr bis dato beschauliches Leben im Lübecker Umland jäh auf den Kopf gestellt, als ihr vorgeworfen wurde, dass sie den Schüler Felix Weixler verführt und dann zur Vertuschung des Vorfalls ermordet habe. Sie wurde verurteilt und verbüßt zu Beginn der Filmhandlung noch eine längere Haftstrafe.

Eine zu dünne Beweislage sowie gewisse Ungereimtheiten in den Zeugenaussagen führen dann aber zur Revision; die Pädagogin wird freigesprochen. Sie beschließt, ihr altes Leben an genau dem Punkt in Zeit und Raum wieder aufzunehmen, an dem sie gezwungenermaßen aus ihm aussteigen musste. Eine gute Idee? Während ihre beste Freundin Meike (Bettina Burchard) uneingeschränkt zu ihr hält, beschimpfen Felix’ Eltern (Gerti Drassl, Peter Schneider) sie noch vor Gericht in ohnmächtiger Wut. Ihr Exmann Jan (Jan Krauter) lebt nach der Scheidung nun mit der wohlhabenden Katrin (Katharina Marie Schubert) und deren schwer pubertärer Tochter Betty (Luna Jordan) zusammen.

Auch die Schulleiterin ist anfangs gar nicht begeistert, Julia wieder auf den Fluren zu sehen, und muss mit sanfter Gewalt zur Wiederbeschäftigung genötigt werden. Schließlich ist da noch die Exschülerin Sophie (Sonja Weißer), die Felix’ Namen sichtbar und stolz als Schmucknarbe über der Brust trägt – und auch sie hat kein gutes Wort für Brandt übrig.

Den Windmännchen ist nicht zu trauen

Aber nicht nur die Lehrerin hat mit ihrer Resozialisierung zu ringen; auch der alternde, übersensible Kommissar Kauth (Thomas Loibl) kehrt nach einem traumatischen Erlebnis, bei dem er den gewaltsamen Tod einer Kollegin mitansehen musste, in den Dienst zurück. Kauth führt die Ermittlungen im gerichtlich angeordneten Wiederaufnahmeverfahren. Geschickt werden ihre beiden Geschichten parallelisiert und erzählerisch verwoben. Beide sind sie Außenseiter in einer latent feindseligen, soziale Klaustrophobie heraufbeschwörenden Umwelt.

Jeder kennt hier jeden, und niemand sollte dem freundlich willkommen heißenden Winken zwei rot-grüner „Windmännchen“ am Ortseingang von Brinkholm allzu viel Vertrauen schenken. An Julias Schule ist Mobbing an der Tagesordnung. Hinter Kauths Rücken tuschelt man über seine Selbstgespräche, und überall wird zu viel Alkohol konsumiert, aus Freude oder aus Frust, was dazu führt, dass Konflikte häufiger handfest-altdeutsch ausgetragen werden.

Kauth, der Kauz, ist unter den Fernsehkommissaren ein interessantes Unikum; daher erscheint auch die im Mittelteil leicht zu seinen Gunsten verschobene Balance des filmischen Erzählens zwischen Ermittler und Verdächtigen gerechtfertigt. Die sich immer weiter ausdehnende Motivlage, die damals zum Tod des scheinbar überall beliebten und hochbegabten (Schauspiel-)Schülers Felix führte – wie im „Club der toten Dichter“ ist Shakespeares Puck seine „Signature Role“ –, wird hingegen stärker durch Julias Augen vermittelt; eine entschlossene, standfeste Frau, die aber nicht so sehr zur (Einzel-)Kämpferin, sondern eher zur Kameradin geschaffen ist. Sie erfährt schmerzhaft, wie nahezu alle sozialen Bindungen, die sie für tragfähig gehalten hatte, sich als unzuverlässig herausstellen.

Ein Engel war er nicht

Ein Verbrechen, ein Mord noch dazu, gleicht immer einer Wunde am gesellschaftlichen Gesamtgefüge; hier führt gerade der Versuch von Versöhnung zum Verlust von Julias Urvertrauen – bis hin zu erneuten Morddrohungen. Dem kranken Kommissar und seinen Halluzinationen ist es zu verdanken, dass spät auch Felix (Eloi Christ) seine Sicht der Dinge, die keine reine Opferperspektive ist, darstellen kann.

Es stellt sich heraus, dass er kein Engel war. Seine Erscheinung erinnert in Kauths Kopf eher an dämonische Gestalten bei Dostojewski oder Thomas Mann. Seine Figur komplettiert das Panorama unschmeichelhafter, aber glaubwürdig wiedergegebener moderner Männerbilder im Soziotop von Brinkholm: die einen alt, zornig und resigniert, die anderen jung, eitel und egoistisch; alle emotional Versehrte.

Und so lässt sich dieser Fall, der auch ein klassischer Whodunit ist, von seinem Ende her als bürgerliche Tragödie der Monogamie begreifen, welche alle Figuren gemäß dem „Anna Karenina“-Prinzip zu kurz gekommen und „auf ihre eigene Weise unglücklich“ sein lässt. Folgerichtig ziehen im Schlussbild die beiden besten Freundinnen gemeinsam von dannen – ob sie vorher wohl „Thelma & Louise“ geschaut haben?

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