Carol & The End of the World

Animation | USA/Kanada 2023 | 286 (10 Folgen) Minuten

Regie: Luis Grané

Ein Planet rast unaufhaltsam auf die Erde zu. Angesichts der Auslöschung versinkt die Weltbevölkerung allerdings nicht in totalem Chaos, sondern wirft den Kapitalismus über Bord und begibt sich auf kollektiven Selbstverwirklichungstrip. Alle außer der Mittvierzigerin Carol. Die blüht erst auf, als sie in einem verlassenen Gebäude ein Großraumbüro findet, wo sie nicht nur normale Alltagsroutine, sondern auch neue Freunde findet. Die Animationsserie kommt auf den ersten Blick als tragikomische Endzeitvision daher, doch die drohende Katastrophe fungiert nur als Aufhänger für einen mikroskopischen und introspektiven Blick auf menschliche Glücksentwürfe und eine melancholische Selbstbefragung ganz persönlicher Werte und Bedürfnisse. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
CAROL & THE END OF THE WORLD
Produktionsland
USA/Kanada
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Bardel Ent.
Regie
Luis Grané · Erica Hayes · Mollie Helms · Bert Youn
Buch
Dan Guterman
Länge
286 (10 Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Animation | Komödie | Serie
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Satirische Animationsserie um eine Mittvierzigerin, die angesichts einer kommenden globalen Katastrophe dem Ende der Welt entgegensieht.

Diskussion

Carol Kohl liegt regungslos in ihrem dunklen Wohnzimmer auf der Couch und zappt sich durch das Fernsehprogramm: Keppler, ein riesiger Planet, steuert unaufhaltsam auf die Erde zu. Niemand kann den Clash verhindern, Astronomen können lediglich den Zeitpunkt sehr genau vorhersagen. Zapp. Meditationsreisen nach Tibet. Zapp. „Weiß Ihr Hund, dass die Welt bald untergeht?“ Zapp. Warteschlangen am Mount Everest. Zapp. Dauerpartys am Strand. Carol betrachtet all das, als schaue sie einen Film. Doch was sie hier sieht, sind die Nachrichten.

Die Welt im kollektiven Selbstverwirklichungsrausch

Zu Beginn der Animationsserie „Carol & the End of the World“ sind es noch sieben Monate und 13 Tage, bis die Apokalypse eintritt. Doch anstelle von totalem Chaos verfällt die Weltbevölkerung angesichts der Auslöschung in einen kollektiven Selbstverwirklichungstrip. Alle scheinen eine Bucket List zu haben, eine Liste mit Dingen, die sie gemacht haben wollen, bevor sie sterben – alle außer Carol. Als jemand sie fragt, was sie an der alten Welt am meisten vermisse, überlegt sie kurz und antwortet dann: „Recycling. Und das Gefühl, Geld gespart zu haben?“ Ihre Antwort klingt mehr wie eine Frage als eine Überzeugung. Die alleinstehende Mittvierzigerin Carol mit den traurigen Augen und dem immergleichen Outfit hat keine Träume und weiß, dass sie damit aus der Reihe fällt.

„Carol & the End of the World“ kommt auf den ersten Blick als tragikomische Endzeitvision daher, stammt sie doch von Dan Guterman, einst Autor für die Satireseite „The Onion“ und die Late-Night-Show „The Colbert Report“. Mit Einzelfolgen von „Rick und Morty“ machte er als Autor für fiktionale Formate bereits auf sich aufmerksam. „Carol & the End of the World“ ist nun seine erste Serie als Showrunner. Die Apokalypse ist hier jedoch kein Selbstzweck, sondern wirkt als Katalysator des universellen Hamsterrads, in das sich die Weltbevölkerung hineinmanövriert hat. Guterman hat sichtlich Freude daran, das bis in die kleinsten Details auszugestalten: Hemmungslos leben alle ihre Träume aus, und sobald Carol dann doch das Haus verlässt, schweben Fallschirmspringer und Ballonfahrer über den Himmel, sind Orgien im Gange oder ein neu entdecktes Musiktalent trötet ihr entgegen. Ihre Eltern laufen nun ausschließlich nackt herum und sind obendrein eine Dreiecksbeziehung mit ihrem Altenpfleger eingegangen. Schwester Elena schickt aus allen Ecken der Welt Videotagebücher von ihren neuen Hobbys: Sprachen und Fallschirmspringen – gerne beides gleichzeitig, ihre Clips aus dem freien Fall kommentiert sie in fließendem Französisch.

Ein Hoch auf die Routine

Und Carol? Die vermisst ihr altes Leben: Büro, Abendessen in einer Restaurantkette, ab und zu ihre Eltern besuchen. Das wird ihr allerdings erst klar, als sie eine Frau im Businessdress in der U-Bahn sieht – mittlerweile ein ungewöhnlicher Anblick. „Die Welt geht unter und ich muss trotzdem arbeiten?“ ist in dieser Realität keine Frage mehr, das nahende Ende hat den Kapitalismus ausgehebelt. Carol folgt der Frau neugierig in ein heruntergekommenes Gewerbe- und Bürogebäude. Wie ein Heilsversprechen leuchtet ein einziges Stockwerk in dem sonst zappendusteren Hochhaus.

Die Firma nennt sich „The Distraction“ – was sie tut? Egal, denn hier geht es eben nicht darum, den Kapitalismus angesichts der Apokalypse aufrechtzuerhalten, sondern um etwas viel Elementareres: Routine. Carols Augen leuchten, als sie aus dem Aufzug in ein Großraumbüro tritt – Jacques Tati lässt grüßen, doch weicht hier die Modernismuskritik einer viel persönlicheren Wahrnehmung. Die Miniserie sinniert über den Halt, den feste Strukturen und Tagesrhythmen geben in einer immer chaotischer werdenden Welt. Angesichts der ultimativen Katastrophe wird die Langeweile der Gewohnheit zum Fels in der Brandung – und das nicht nur für Carol: Das Großraumbüro ist nahezu voll besetzt.

Es entstehen neue Freundschaften

Carol fühlt sich plötzlich zuhause, weil sie eine Aufgabe hat – und lernt in teils dadaistisch-absurden Folgen, aus sich herauszugehen. Damit legt sie unvorhergesehen den Grundstein für zwischenmenschliche Nähe unter den Fremden, die hier tagein tagaus auf ihre Computertastaturen einhacken. Carol schließt Büro-Freundschaften mit Donna und Luis, und gemeinsam entdecken sie auf den anderen Stockwerken verlassene Geschäfte, Unternehmen und Träume. In einem Sonnenstudio werfen sie die Bräunungsbänke wieder an und erzählen plötzlich ungehemmt aus ihrem Leben, als lägen sie auf der Therapiecouch.

Die alleinerziehende Donna musste immer so viel arbeiten, dass sie sich nun bei einer Familienfeier nur wie ein Gast fühlt, weil sie ihre Kinder so selten sieht. Luis ist zwar jahrelang viel gereist und hatte viele Freunde, konnte aber seiner Mutter nie sagen, dass er homosexuell ist und sitzt deshalb an seinem Geburtstag allein zuhause. Nicht nur Carol ist mitten unter Leuten einsam und hat sich in eine Rolle gezwängt, um nicht aufzufallen. Zum ersten Mal kann sie in dieser gemeinsamen Einsamkeit laut aussprechen, dass sie ihren Eltern vorlügt, sie verbringe jeden Tag am Strand und lerne nun endlich Surfen, damit diese sich keine Sorgen machen.

Zufriedenheit mit dem Alltäglichen

Die Langsamkeit und Lethargie dieser Apokalypse klingt nach Bore-out, ist aber ein hübsches Kabinettstück unter all den Endzeit-Visionen, die Film und Fernsehen zu bieten haben. „Carol & the End of the World “ fragt nicht, wie der Weltuntergang noch in einem Akt von Heroismus oder weltumspannender Solidarität aufzuhalten ist, sondern wohin wir unsere Aufmerksamkeit lenken und weshalb. Die Maxime, jeden Tag so zu leben, als könnte er der letzte sein, mag für viele bedeuten, so viele Abenteuer zu erleben wie möglich. Hier wird sie jedoch eben nicht zum Höher-Schneller-Weiter einer Bucket-List-Logik, sondern fragt danach, wie Menschen mit sich und anderen umgehen. Die Serie richtet ihren Fokus auf all die vergessenen, abgelegten und verlorengegangenen Gegenstände und Personen, die nur im Kontext funktionieren – ein Kontext, den sie sich selbst suchen müssen, damit er sich richtig anfühlt.

In Carols Leben haben auch vor der nahenden Apokalypse keine großen Abenteuer gefehlt, sondern Menschen, die verstehen, dass sie zufrieden damit ist, tagsüber ins Büro zu gehen und abends Kuchen zu backen. Ihre Schwester Elena durchschaut Carols Surfer-Story natürlich sofort, so bleich und unsportlich, wie sie daherschlurft. Erst jetzt kann Carol die Lüge endlich zugeben, weil sie ihre Zufriedenheit mit Alltäglichem nicht mehr als Mangel betrachtet.

Nur an der Oberfläche ist die Serie eine apokalyptische Allegorie auf all die Katastrophen, der die Welt sich aktuell stellen muss. Ihr mikroskopischer und introspektiver Blick jedoch macht sie vielmehr zu einer melancholischen Selbstbefragung ganz persönlicher Werte und Bedürfnisse – eher verwandt mit Charlie Kaufmans „Anomalisa“ (2015) oder Lars von Triers „Melancholia“ (2011) als mit klassischen Endzeitvisionen. In einem ihrer Video-Tagebucheinträge erzählt Elena einer Runde cooler Globetrotter dann auch von Carol: „Sie hat schon immer ihr Ding gemacht. Wisst ihr, wie schwer das ist? Ich mache immer nur, was alle anderen machen.“

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