Ich kann nicht schlafen

- | Frankreich/Schweiz 1994 | 112 Minuten

Regie: Claire Denis

Eine junge Litauerin hofft, in Paris ihre Zukunft zu finden. Junge Schwarze, die in der Stadt leben, haben alle Hoffnung längst aufgegeben. Nur die Alten, die das Schicksal nach Paris verschlagen hat, haben sich mit ihrem Leben arrangieren können. Überschattet wird dieses Szenario von einer Serie von Morden an alten Damen. Ein beiläufig erzählter, leise dahinfließender Film, der eine Reihe kleiner Geschichten aneinanderreiht, die erst nach einiger Zeit eine komplexe Großstadtgeschichte ergeben. Hintergründige Unterhaltung zu den Themen Hoffnungslosigkeit und Sinnsuche. - Ab 16 möglich.
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Filmdaten

Originaltitel
J'AI PAS SOMMEIL
Produktionsland
Frankreich/Schweiz
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
Aréna/Pyramide
Regie
Claire Denis
Buch
Claire Denis · Jean-Pol Fargeau
Kamera
Agnès Godard
Schnitt
Nelly Quettier
Darsteller
Richard Courcet (Camille) · Alex Descas (Théo) · Katerina Golubeva (Daiga) · Line Renaud (Ninon) · Béatrice Dalle (Mona)
Länge
112 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16 möglich.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.78:1, DD2.0 frz./dt.)
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Diskussion
Paris im Sommer: Die Stadt wirkt menschenleer, wer jetzt noch da ist, muß seine guten Gründe haben, oder er muß überhaupt keinen Grund mehr haben, läßt sich einfach treiben.

Als die junge Litauerin Daiga in der Stadt eintrifft, erschüttert eine Serie von Morden an alten Damen das 19. Arrondissement, die Gegend um Montmartre und Sacre Cœur. Daiga ist zuversichtlich, in Paris Karriere als Schauspielerin machen zu können, schließlich hat sie die Telefonnummer eines russischen Regisseurs, und bis es so weit ist, helfen halt die anderen Litauer aus, die in der Stadt gestrandet sind: Solidarität der Heimatlosen. In der Tat findet Daiga Unterschlupf bei Ninon, der resoluten Hotelinhaberin, die alten Damen Selbstverteidigungskurse bietet. Doch der Traum von der Karriere zerschlägt sich schnell; was bleibt, sind Kettenrauchen und ein Job als Zimmermädchen in Ninons Hotel.

Dort trifft die junge Frau auch Camille, einen schwarzen Homosexuellen, der das Hotel als Liebesnest mit seinem Geliebten Raphael nutzt, und dessen Charme sogar Ninon nichts entgegenzusetzten hat. Doch die beiden Männer führen mehr als ein Doppelleben. Als singender Transvestit findet Camille so etwas wie Ruhe und Erfüllung. Aber die Ruhephasen sind nur von kurzer Dauer, bald ist er wieder getrieben, bald werden er und Raphael wieder zuschlagen, kaltblütig und emotionslos: Serienmorde als Lebensgrundlage. Theo, Camilles Bruder, nimmt dessen düstere Seite nicht wahr. Er träumt sich zurück nach Martinique, verbringt die Nächte auf dem Dach seines Hauses, hoch über der Stadt, entrückt. Eines Tages hat er Flugtickets für sich, seinen kleinen Sohn und seine Frau Mona gekauft, doch die denkt gar nicht daran, Paris den Rücken zu kehren. Ein weiterer Konflikt, eine weitere Sackgasse.

Beiläufig kreuzen sich die Wege aller Beteiligten, beiläufig werden weitere alte Damen umgebracht, beiläufig nimmt Camille seine AIDS-Krankheit war, beiläufig verrinnt das Leben aller.

Regisseurin Claire Denis erzählt keine komplexe Geschichte, sondern reiht kleine Geschichten aneinander, die irgendwann einmal das Ganze ergeben. Eine tatsächliche Mordserie, die in den 90er Jahren Paris erschütterte, bildet die Klammer all dieser Geschichten. Doch Denis erzählt kein kriminalistisches Rätsel, zeigt früh die Täter, sondern schildert Großstadtgeschichten und -Schicksale, die eines gemeinsam haben: alle Personen fühlen sich unbeheimatet. Der Transvestitenclub, das Bistro, der düstere Kinosaal, das ist zwar Heimat für eine kurze Zeit, doch wirklich zu Hause fühlt sich niemand. Alle sind ständig in Bewegung, suchen unbewußt, finden jedoch keinen Halt, driften hilfslos durch ihr Leben.

Denis hat unter anderem als Regieassistentin bei Wenders und Jarmusch gearbeitet, das merkt man ihrem knappen, lakonischen Inszenierungsstil an. Alles wirkt beiläufig, wie von ungefähr und fügt sich doch zusammen. Dieser Rhythmus spiegelt die Wesenszüge der Protagonisten trefflich; wo kein rechtes Ziel vorhanden ist, da bleibt vieles dem Zufall überlassen. Wobei die Charaktere teilweise zu Posen erstarrt, wenig wandlungsfähig sind und sein wollen. Ein künstliches Licht unterstreicht diese Posen - Rot bei Daiga, Camilles und Théos kaltes Paris ist oft in kaltes Blau getaucht. Ausnahmen in diesem erstarrten Szenario bilden ausgerechnet die Alten, die sich mit ihrem Leben arrangiert und sich eine kleine Heimat eingerichtet haben. Sie strahlen Ruhe und Gelassenheit aus, allen voran die großartige Line Renaud als Ninon, auf die die Jungen gar nicht zu hoffen wagen. Die driften weiter durch die Stadt, einsam und immer einsamer. Mörder werden gefaßt und legen emotionslos Geständnisse ab, Träume zerplatzen wie Seifenblasen, Familien verlieren einander, eine Mutter fragt sich fassungslos, wieso ihr kleiner Junge ein Monster geworden ist. Irgendwie geht das Leben weiter. Doch was ist das, Leben?
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