- | Frankreich 1991 | 119 Minuten

Regie: Agnès Varda

Episodisch gereihte Kindheitserinnerungen des im Oktober 1990 gestorbenen französischen Filmregisseurs Jacques Demy, inszeniert von seiner Frau Agnès Varda als fesselndes Geflecht aus Wirklichkeit und Fiktion, das die Grenzen zwischen Leben und Kino aufzeigt und sie gleichzeitg aufhebt. Eine ebenso vielschichtig wie federleicht, amüsant und leise-melancholisch entwickelte Rückbesinnung; zugleich ein zutiefst berührender Einblick in die Leidenschaften, Träume und Visionen Demys, dessen Fähigkeit, das Leben und die Menschen zu lieben, Agnès Varda einfühlsam vermittelt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
JACQUOT DE NANTES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1991
Produktionsfirma
Ciné-Tamaris/Canal+/La Sept/La Sofiarp
Regie
Agnès Varda
Buch
Agnès Varda
Kamera
Patrick Blossier · Agnès Godard · Georges Strouvé
Musik
Joanna Bruzdowicz · Chansons der 30er und 40er Jahre
Schnitt
Marie-Josée Audiard
Darsteller
Philippe Maron (Jacques 1) · Edouard Joubeaud (Jacques 2) · Laurent Monnier (Jacques 3) · Brigitte de Villepoix (Marilou, Jacques' Mutter) · Daniel Dublet (Raymond, Jacques' Vater)
Länge
119 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Ein grauhaariger Mann in einem Jeansanzug liegt am Strand, in seinem Blick eine anrührende Mischung aus Melancholie und Sanftheit. Versonnen, ohne Pathos läßt er den Sand durch die Finger rinnen: eine Geste nur, beiläufig und ruhig, nicht mehr als eine vorsichtige Anspielung auf dieses Zeichen der Vergänglichkeit. Drei Monate später, im Oktober 1990, ist er tot: Jacques Demy starb 59jährig an den Folgen einer Gehirnblutung. Hierzulande ist er so gut wie unbekannt geblieben. Seine Filme paßten in kein gängiges Schema, die Verleiher hatten Angst vor dem finanziellen Desaster; und wenn man miterlebte, wie hiesige Festivalgäste einen Film wie Demys "Ein Zimmer in der Stadt" (1982, fd 24 673) auslachten, dann versteht man zwar die Angst der Verleiher, ist aber bestürzt über die Ignoranz vieler vorgeblicher Cineásten gegenüber einem Filmemacher, dessen filmisches Erzählen von unvergleichlicher Reinheit, Aufrichtigkeit und Leidenschaft geprägt war. Demy hatte angefangen, sein Leben niederzuschreiben. Er schrieb vor allem über seine "glückliche Kindheit", die, so Agnès Varda-Demys Frau -, sein Schatz war, die Quelle seiner Inspiration. Jacques Demys und Agnès Varda dachten sich in diese Kindheit zurück: er erinnerte sich, sie inszenierte seine Erinnerungen - mit Zuneigung und Verständnis, getragen von ihrer großen Liebe, geprägt von leiser Trauer und der Angst vor dem drohenden Verlust. Einerseits ist Agnès Varda für diesen Film ganz hinter ihren Mann zurückgetreten: empfindsam und zärtlich blättert sie Stationen aus den Jahren 1939 bis 1949 auf und beschreibt, wie eng Demys Kindheitseindrücke mit den Filmen verbunden sind, die er als Erwachsener inszeniert. Andererseits läßt sie nie den "Ruch" einer bloßen (auto-)biografischen Dokumentation aufkommen: wie in ihrem Dyptichon über die Schauspielerin Jane Birkin ("Jane B. par Agnès V." und "Die Zeit mit Julien", fd 27 096,1987) konstruiert sie konsequent ein Wechselspiel aus Realität und Fantasie, das die Grenzen zwischen Kino und Leben aufzeigt und zugleich aufhebt: Fantasie und Wirklichkeit sind gleichberechtigte Bereiche, die Kraft der Imagination ist eine (Lebens-)Kunst, die es nicht nötig hat, sich permanent zu behaupten, vielmehr ihre Existenz als selbstverständlich voraussetzt.

Das Leben als Poesie, als wechselhaftes Spiel zwischen Komödie und Tragödie; die Sprache als ein Füllhorn voller Melodien, der Alltag als Hort für Entdeckungen, durch die das Auge spazieren geht. Und auch in Vardas Film gehen Augen - und Ohren - spazieren: zu Beginn folgt die Kamera in einer ungeschnittenen Plansequenz dem achtjährigen Jacquot, der mit Freunden in der Nantaiser Autowerkstatt seines Vaters spielt, schließlich auf eine Leiter steigt und durch ein Fenster in das Zimmer eines Mädchens in der Nachbarschaft blickt. Genauso ließ Demy zu Beginn von "Die Mädchen von Rochefort" (1967, fd 16 911) die Kamera "schweben" und nach einem Schwenk über den Marktplatz ins Zimmer der Schwestern Catherine Deneuve/Françoise Dorleac blicken. Gleichzeitig nimmt Agnès Varda mit solchem "Zitat" jene Entdeckung vorweg, die der 18jährige Jacquot in seinem selbstgebastelten "Filmatelier" anwenden wird: er setzt seine Kamera auf eine bewegliche Schiene, um für einen ebenso mühsam wie engagiert hergestellten Trickfilm eine Kamerafahrt zu suggerieren. Zwischen diesen beiden Stationen liegen zehn Jahre Kindheit und Jugend, glückliche ebenso wie weniger glückliche Tage: Es erwacht Jacquots Liebe zum Puppentheater, zur Operette und zum Singspiel überhaupt, schließlich zum Film und zum Kino; er bastelt sein eigenes Puppentheater, Kulissen und Figuren, entdeckt seine Freude an der Vorführung und dem Lachen seiner Zuschauer (zumeist die Familie: sein Vater, seine Mutter, sein jüngerer Bruder); er erlebt die unruhige Zeit des Zweiten Weltkrieges, als die Menschen vor den deutschen Soldaten fliehen; kommt mit seinem Bruder aufs Land, ins Loire-Tal, zu einem Holzschuhbauer (dessen Handwerk er als 24jähriger in seinem ersten Kurzfilm dokumentiert); gerät in Zwist mit seinem Vater, der ihn nicht auf die Filmhochschule läßt, sondern in die Schlosserlehre schickt, damit er einmal die Werkstatt übernimmt. Nebenbei bastelt er in seinem kleinen "Filmstudio" über der Werkstatt und kann schließlich seinen Trickfilm Christian-Jaque vorführen, der für eine Filmpremiere nach Nantes kommt. Als dieser ihn lobt, läßt ihn der Vater doch nach Paris, um Film zu studieren.

Dreimal Jacquot, dargestellt von drei faszinierend unbekümmerten Jungen unterschiedlichen Alters: zunächst der fantasiebegabte Achtjährige mit den aufmerksamen Augen, der sich dann zum sanftmütigen, stets vermittelnden Entdecker seiner (Um-)Welt entwickelt, bevor er mit noch ernsteren Augen und "rebellischem" Äußeren zum besessenen Film-Fan wird, der seinen Weg sucht. Mit Leichtigkeit und Heiterkeit entwirft Agnès Varda ein episodisches Geflecht aus - schwarz-weißen - Momentaufnahmen, deren Themen sich gelegentlich mit - farbigen - Ausschnitten aus den Filmen Demys verbinden: das alltägliche Leben in des Vaters Garage wird zur Ouvertüre des Singspiels "Die Regenschirme von Cherbourg" (1963, fd 13 713), die Mutter zur bewunderten Schönheit, die wie Catherine Deneuve in "Peau d'Ane" (1970) singt, backt und spielt, die Grausamkeit und Ungerechtigkeit der deutschen Okkupation verdichtet sich zur Konfrontation während des Werftarbeiterstreiks 1955 in Nantes ("Ein Zimmer in der Stadt"). Doch die Bezüge zwischen Realität und Fiktion sind noch facettenreicher: so ersteht Jacquot in der "Passage Pommeraye" - einer architektonisch eindrucksvollen Jugendstil-Einkaufspassage in Nantes, der Demy mehrfach ein filmisches Denkmal setzte - seine erste Kamera. Er tauscht sie ein gegen ein selbstgebasteltes Modell der alten Verladebrücke im Hafen von Nantes, an der ein Transport-Plateau von einem Brückenpfeiler zum anderen schwebt: Eine Brücke als Sinnbild, das Demy immer wieder benutzt, etwa in der betörend-schönen Einleitung der "Mädchen von Rochefort" oder im Vorspann von "Ein Zimmer in der Stadt".

So fließt alles ineinander: das Gesehene und das Empfundene, das Erinnerte und das aus der Erinnerung heraus Inszenierte. Auch die Aneinanderreihung von Schwarz-Weiß- und Farbteilen ist - wie auch in Demys Filmen - spielerisch und vermittelnd in einem: das, was Jacquot sieht und fasziniert, kann plötzlich farbig werden - und damit zur inszenierten Komposition. Zunehmend häufiger schneidet Agnès Varda dokumentarische Bilder mit Jacques Demy als 59jährigem in die Inszenierung ein. Demy kommentiert und ergänzt, oft leicht amüsiert, manchmal auch offensichtlich etwas verwundert über die schöne "Banalität" seiner Kindheit, die doch so erfüllt, erlebnisreich und sinnenfroh war. Vor allem Eindrücke, die sich in ihrer Tiefe jeder Form von Inszenierung entziehen, werden von Demy selbst angesprochen, etwa wenn er von den Zerstörungen in seiner Heimatstadt Nantes während des Krieges erzählt: "Seitdem hasse ich die Gewalt." Agnès Varda wiederum ertastet in extremen Nahaufnahmen Demys Haut, seine Haare und Augen: die Kamera streichelt ihn fast. Daß dies weder peinlich noch zum Vexier-Spiel für Eingeweihte wird, ist ihrem hochsensiblen Gespür für Grenzen zu verdanken, ihrer Achtung und Rücksichtnahme, vor allem aber ihrer in jedem Filmmeter spürbaren Liebe. Und so wird der individuelle Kindheitsbericht in aller "Natürlichkeit" zum allgemeingültigen Erkenntisschatz: am Ende weiß man tatsächlich etwas von Demys Leidenschaften, seinen Visionen und Träumen, seiner Fähigkeit, das Leben und die Menschen zu lieben. Und so möchte man, wenn der Film zu Ende ist, ähnlich sitzenbleiben, wie es der kleine Jacquot vor dem geschlossenen Vorhang des Kasperle-Theaters tat: "Es ist nicht zu Ende", sagte er. "Der Vorhang geht manchmal wieder auf. Ich warte!"
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