Drama | Deutschland/Polen 2003 | 86 Minuten

Regie: Christoph Hochhäusler

Zwei Kinder werden von ihrer Stiefmutter an der deutsch-polnischen Grenze ausgesetzt. Während sie auf polnischer Seite durch Wälder irren und sich einem Lieferanten anschließen, setzt ihr Vater alle Hebel in Bewegung, um die Kinder zu finden. Die Stiefmutter, die nicht fähig ist, über ihr unerklärliches Verhalten zu sprechen, verfällt zusehends geistig und körperlich. Beklemmende Familientragödie nach Motiven aus "Hänsel und Gretel", die durch ihre konsequente Bildsprache besticht und einen Eindruck existenzieller Kälte und Ausweglosigkeit vermittelt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Polen
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Fieber Film/ZDF/Colonia Media/ Cine Images/Filmcontract/ Schmidtz Katze
Regie
Christoph Hochhäusler
Buch
Benjamin Heisenberg · Christoph Hochhäusler
Kamera
Ali Götzkaya
Musik
Benedikt Schiefer
Schnitt
Gisela Zick
Darsteller
Judith Engel (Sylvia Mattis) · Horst-Günther Marx (Josef Mattis) · Miroslaw Baka (Kuba Lubinski) · Sophie Charlotte Conrad (Lea Mattis) · Leonard Bruckmann (Konstantin Mattis)
Länge
86 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Filmgalerie 451 (FF, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Zu Beginn: eine leere Straße, die sich durch kahle Felder zieht. Man muss einen Moment hinsehen, bevor man zwei Kinder am Straßenrand bemerkt, Lea und Konstantin, auf dem Heimweg von der Schule. Gleich werden sie von ihrer Stiefmutter Sylvia mit dem Auto abgeholt – um wenig später ein weiteres Mal in der Weite der Landschaft alleine gelassen zu werden: Es kommt zu Sticheleien und Streitereien, bis Sylvia die Kinder genervt aus dem Auto wirft und davon fährt. Christoph Hochhäuslers Debütfilm entfaltet sich nach dieser Exposition als düsteres Road Movie, tristes Märchen, Familientragödie. Schauplatz ist die Region um die deutsch-polnische Grenze. Die Kinder bleiben in Polen zurück, wo ihre Mutter mit ihnen eigentlich einkaufen wollte. Lea und Konstantin begeben sich auf eine Odyssee durch diese fremde Welt, um wieder nach Hause zu finden, zu ihrem Vater. Der weiß nicht, was seine Frau getan hat, und setzt seinerseits von Deutschland aus alle Hebel in Bewegung, um die beiden zu finden.

Eine vertraute Konstellation: Die böse Stiefmutter, die Kinder, die in der Wildnis ausgesetzt werden, der Vater, zu dem man am Ende heimkehren will – Hänsel und Gretel. Aber so einfach macht es sich Hochhäusler nicht. Von märchenhaftem Zauber ist wenig zu spüren, stattdessen wirkt der Film in seiner Sprödigkeit verstörend und beklemmend. Die Einstellungen sind karg und streng komponiert. Obwohl es um eine Reise bzw. eine Suche geht, bleibt die Kamera statisch, bewegt sich nur wenig und zeigt auch die Bewegung der Figuren vor der Kamera lediglich so, dass kaum der Eindruck von Dynamik entsteht. Trotz der Weite der Landschaften vermittelt der Film den Eindruck eines Eingesperrtseins der Figuren, einer existenziellen Ausweglosigkeit. Dabei gibt es keine klare Aufteilung der Protagonisten in Gut und Böse. Gleichberechtigt neben den Abenteuern der Kinder steht die Leidensgeschichte der Stiefmutter, einer fragilen Frau, die mit der Zurückweisung, die sie vor allem durch Lea erfährt, ebenso wenig umgehen kann wie mit der unterkühlten Atmosphäre, die in dem properen Fertighaus herrscht, das der Vater für seine Familie errichtet hat. Man merkt an fahrigen kleinen Gesten ihre Hilflosigkeit, wenn sie zwischen sterilen Wänden auf ihren Mann wartet, unruhig wie ein Tier im Käfig. Als er nach Hause kommt, wird nichts besser: Sie ringt um seine Liebe, kann aber nicht über das sprechen, was geschehen ist. Und verstummt zusehends. „Milchwald“ schildert nicht zuletzt den Verfall dieser Frau, die längst schon verloren ist, während für die verlorenen Kinder die Reise erst beginnt. Sie scheint in den Räumen zu verschwinden, an Substanz zu verlieren, was subtil in ihrer Erscheinung und durch die Kameraarbeit angedeutet wird: Wenn sie sich zu Beginn im Grün und Beige der Landschaft bewegt, werden diese Farben in Rock und Bluse aufgegriffen. Später, im Innern des Fertighauses, trägt sie ein graues Etuikleid, das sie im Gegenlicht der Fenster visuell zum Schattendasein verdammt.

Der Film, das machen die Bilder von Beginn an deutlich, ist vor allem eine Studie über die Einsamkeit. Mitunter erinnert „Milchwald“ an Arbeiten Ingmar Bergmans: wie die Figuren meist nicht in Paaren oder Gruppen, sondern in nahen Einstellungen, isoliert im Bildkader, präsentiert werden, wie sie an den Rand gedrängt werden, verloren unter einem weiten Himmel, in einem tiefen Raum, auf einer leeren Straße, wie Distanzen zwischen ihnen aufgerissen werden. Die visuelle Umsetzung des Films ist erstaunlich konsequent, fast gnadenlos in der Darstellung der Welt als emotionales Eishaus. Nicht einmal Brüderchen und Schwesterchen können dem eine Enklave menschlicher Wärme entgegensetzen. Zwar gibt es Momente der Nähe, doch scheinen sie mehr aus der Not denn aus wirklicher Zuneigung geboren. Vor allem Lea, von Sophie Charlotte Conrad mit beunruhigender Präzision dargestellt, ist eine recht negative Figur, ein seltsam grausames und egozentrisches Wesen, das der Welt mit tiefem Misstrauen gegenübertritt. Der Blick aus ihren Augen hat wenig Kindliches und wirkt mitunter erschreckend kalt. Einen Mann, der Hotels mit Hygieneartikel beliefert und sich der Kinder annimmt – zunächst aus Mitleid, später aus Interesse an der Belohnung –, versucht sie gegen Ende in einer schrecklichen Szene sogar zu vergiften. Aus Angst?

Leas Motive bleiben rätselhaft. Wie ihre Härte gegen den kleinen Bruder. Wie Sylvias Verhalten, als sie die Kinder einfach zurücklässt. Oder die Sprachlosigkeit zwischen ihr und ihrem Mann. Hochhäusler erklärt die Kälte, an der seine Figuren leiden, nicht. Er zeigt sie nur, ohne Kompromiss. Spärlich sind die Momente, in denen durch die Tristesse so etwas wie Zärtlichkeit aufblitzt – z.B. wenn Kuba Konstantin zeigt, wie man eine Blume zum Sprechen bringt, wenn die Kinder aneinandergekuschelt im Morgenlicht schlafen, wenn Sylvia auf einem Waldweg einem Storch begegnet. Doch solche Momente sind rar, und mit einem märchenhaften guten Ende sollte man nicht rechnen.

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