Die 56. Edition der Solothurner Filmtage fiel mitten in die zweite Pandemiewelle und konnte seine Funktion, Werkschau und Forum des gegenwärtigen Schweizer Filmschaffens zu sein, auch als reines Online-Festival ebenso informativ wie unterhaltsam erfüllen. Dass man 2021 in der Schweiz 50 Jahre Frauenstimmrecht feiert, spiegelte sich in einem von weiblichen Blickwinkeln dominierten Jahrgang.
Mit der Zusatzbezeichnung „Home Edition“ traten die 56. Solothurner Filmtage (20.-27.1.2021) ausschließlich online an. Als digitales Festivalzentrum diente die attraktiv gestaltete neue Homepage; sie soll als Ort der Begegnung das ganze Jahr hindurch weiterbetrieben werden. Statt Kinovorführungen und Zuschauer zählte man Online-Vorstellungen (29 815), Visits (90 183) und Page Views (850 000); im Verlauf des siebentätigen Festivals wurden es über 125 000 Zuschauende. Um zumindest einen Hauch von Solothurn zu vermitteln, wurden live stattfindende Panels, Filmgespräche und Diskussionsrunden aus den geschlossenen Solothurner Kinos gestreamt. Vor Ort waren die Festivaldirektorin Anita Hugi mit ihrem Team sowie einige Moderatoren und vereinzelt angereiste Interviewpartner zugegen, alle anderen wurden online zugeschaltet.
Dies alles wurde professionell aufgezogen, klappte meist problemlos und war so informativ wie unterhaltsam. Überhaupt gebührt der Festivalleitung viel Lob für diese Sonderedition, die als Online-Veranstaltung in vielem erfrischend originell daherkam. Die weitaus beste und vielleicht auch kühnste Idee war es, die Eröffnung via Fernsehen in allen drei Landesteilen zeitgleich stattfinden zu lassen. Der Eröffnungsfilm „Atlas“ von Niccolò Castelli erreichte durch dieses Arrangement bei seiner Uraufführung stolze 95 000 Zuschauer. In der Idee, dass Filmfestivals und Kinos gemeinsam mit dem Fernsehen dem Film neue Zuschauersegmente eröffnen, steckt einiges an Zukunftspotenzial.
Abgesehen davon war in Solothurn 2021 vieles wie gehabt. Anita Hugi hatte schon im Vorfeld betont, dass es der Auftrag von Solothurn sei, das Schweizer Filmschaffen sichtbar zu machen, und dass sie diesen Auftrag auch unter erschwerten Umständen zu erfüllen gedenke. Auf dem Programm standen rund 170 Schweizer Filme aller Genres und Längen. Zu den bestehenden Wettbewerben „Prix de Soleure“ und „Prix du public“ kam neu der Wettbewerb „Opera Prima“ hinzu, in den sämtliche Langfilmdebüts aus allen Programmsektionen eingebunden wurden.
Frauen bestimmen sich selbst
Die Hauptpreise gingen 2021 zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals an drei Regisseurinnen. Andrea Staka holte mit „Mare“ den Prix du Soleure, Gitta Gsell bekam für „Beyto“ den Publikumspreis, Stefanie Klemm gewann mit „Von Fischen und Menschen“ den Preis für den besten Erstlingsfilm. Die drei Filme stehen repräsentativ für das, was viele der in Solothurn gezeigten Werke thematisch auszeichnete oder in ihnen zumindest anklang: die Selbstbestimmung von Frauen in eigenen Angelegenheiten.
Während „Mare“ die heimliche Affäre einer Ehefrau und Mutter nachzeichnet, zeigt „Beyto“ unter anderem, wie eine in der Türkei zwangsverheiratete Frau sich in der Schweiz neue Freiräume erobert. In „Von Fischen und Menschen“, der sich kaum in ein Genre einordnen lässt, kämpft eine Frau zugleich mit der Trauer über den Verlust ihrer Tochter und den erwachenden Gefühlen für den Mann, der an ihren Tod nicht unschuldig ist.
Die Reihe von Filmen um weibliche Selbstbestimmung und Beziehungsgeschichten setzte sich mit weiteren, von Frauen realisierten Filmen fort, etwa in „Schwesterlein“ von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond, Bettina Oberlis „Wanda, mein Wunder“ und „Lovecut“ von Iliana Estañol und Johanna Lietha. Auch etliche von Männern realisierte Werke wie „Atlas“ (Niccolõ Castelli), „Das Ende der Unschuld“ (Daniel Best Arias), „Spagat“ (Christian Johannes Koch) und „The Saint of the Impossible“ (Marc Raymond Wilkins) setzten die Schicksale von Frauen in den Mittelpunkt.
Auffällig ist, dass all diese Filme keine „Heldinnen“-Geschichten erzählen, sondern vom alltäglichen Leben durchschnittlicher Frauen berichten und diese Biografien somit „salonfähig“ werden lassen. Im aktuellen Schweizer Spielfilm ist die Absenz von Geschichten um männliche Protagonisten sogar derart markant, dass der Schweizer Filmpreis in der Kategorie „Bester männlicher Darsteller“ 2021 mangels Einreichungen nicht vergeben werden konnte.
Außergewöhnliche Biografien von Außenseiterinnen
Im Gegensatz zum Schweizer Spielfilmschaffen kapriziert sich das Schweizer Dokumentarfilmschaffen in der Darstellung von Frauen und Frauenthemen wie gehabt auf außergewöhnliche Biografien und ausnehmend starke Frauen, Außenseiterinnen und Kämpferinnen.
So konnte man in Solothurn entdecken: „Ale“,
das von O’Neil Bürgi gefertigte Porträt einer 19-jährigen Wrestlerin. „Amazonender Grossstadt“ von Thaïs Odermatt, in dessen Zentrum eine Mixed-Martial-Arts-Sportlerin,
eine Ex-Guerillera und eine DJane stehen. „Farewell Paradise“ von
Sonja Wyss, die erzählt, wie ihre Mutter mit ihren vier Töchtern Hals über Kopf
aus ihrer unglücklichen Ehe ausbrach und danach Karriere als Journalistin
macht. Derweil sowohl Stéphane Goël in „De la cuisine au parlement: Edition 2021“ wie Beat Bieri und Jörg Huwyler in „Das katholischeKorsett“ der Schweizerinnen vehementen Kampf um das Frauenstimmrecht
nachzeichnen, stehen im Mittelpunkt von Evelyn Schels „Body of Truth“
vier weltbekannte Performance-Artistinnen. Matthias Affolter und Fabian Chiquet
beleuchten in „Die Pazifistin“ den Lebensweg der Schweizer
Chemikerin und Friedensrechtsaktivistin Gertrud Woker (1878-1968).
Das heißt aber nicht, dass in Solothurn andere Themen nicht auch den Weg auf die Leinwand (bzw. Bildschirm) gefunden hätten. Zu den beeindruckendsten Werken gehören: „Burning Memories“ von Alice Schmid, die sich darin mit ihrem eigenen Missbrauch auseinandersetzt. Der Spielfilm „Nachbarn“ von Mano Khalil erzählt aus der Sicht eines sechsjährigen Jungen eine vor 40 Jahren an der syrisch-türkischen Grenze spielende jüdisch-kurdische Liebesgeschichte. Miriam von Arx forscht in „The Scent of Fear“ den Funktionen von Angst nach, Mario Theus nähert sich in „Wild – Jägerund Sammler“ dem in der Schweiz kontrovers diskutierten Thema der Jagd.
Ein Blick zurück auf die Pionierinnen
Ebenfalls auf dem Programm der Solothurner Filmtage tauchten einige herausragende Schweizer Filme auf, die auf anderen Festivals schon ihre Premiere erlebt hatten, deren Kinoauswertung sich in der Schweiz aber verzögerte oder unterbrochen wurde. Dazu gehören Thomas Imbachs Langzeitstudie „Nemesis“ über den Abriss des Zürcher Güterbahnhofs und das an dessen Stelle entstehende neue Justizvollzugszentrum, Pascal Hofmanns Künstlerporträt „Not me – A Journey With Not Vital“ sowie Stefan Haupts dem Zeitgeist nachfühlendes „Zürcher Tagebuch“.
Da die Solothurner Filmtage im historischen Rahmenprogramm den Blick zusätzlich auf Pionierinnen des Schweizer Films lenkten, dürften sich die Solothurner Filmtage 2021 nicht nur als Pandemie-Edition, sondern vor allem auch als starker Frauenjahrgang in die Annalen einschreiben. Was dem Festival im Jahr, in dem man in der Schweiz 50 Jahre Frauenstimmrecht feiert, so schlecht nicht ansteht.